Hilfe für dissoziative Patientin

Monika M.

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Coaching
hallo,
wir haben eine Patientin, die gerne alleine spazieren gehen möchte, sich aber nicht traut, da sie häufig dissoziiert und Angst hat über Stunden im Wald "verloren zu gehen".
Sie überlegt sich ein Gerät an zu schaffen, der z.B. alle 30 Minuten ein akustisches Signal gibt.
Wer hat Erfahrungen, was hat anderen Menschen geholfen?
Freue mich auf Eure Erfahrungen
Monika.
 
Hallo Monika,
muss doch mal nachfragen, was dies akustische Signal eigentlich bewirken soll?
Helfen da nicht eher Zielvereinbarungen und ein ggf. ortungsfähiges Handy?

Die Björn-Steiger-Stiftung hat da einen sogenannten LifeService ins Leben gerufen! Kostenlos und empfehlenswert für jedermann/jederfrau!
 
Hallo flexi,
vielen Dank für die schnelle Antwort und den Tip.
Die Patientin stellt sich vor, das akustische Signal könnte eine Hilfe zur Reorientierung sein, falls sie in eine Starre oder einen anderen dissoziativen Zustand geraten ist.
Ich werde ihr mal von Deinem Tip berichten.
Viele Grüße von Monika.
 
Dissoziation

Hi Monika!

Ein - wenn vorhandenes - Handy könnte mit seiner Alarmfunktion genutzt werden, entweder, in dem es regelmäßig gestellt wird oder aber immer wieder in die "Schlummerfunktion", also alle 9 min klingeln, geschickt wird.

Sollten die dissoziativen Zustände so schwer sein und so lange anhalten, dass eine Ortung nötig wäre, so würde ich vom Spaziergang abraten.

Ich nehme an, dass die Dissoziationen zumindest prinzipiell kein neues Problem sind, d. h., dass die Patientin bisher schon Fertigkeiten entwickelt haben muss, um nicht in die Dissoziation hineinzugeraten oder sich selbst wieder heraus zu holen. Vielleicht kann man diese Fähigkeiten nutzen und ausbauen.

Vielen hilft z. B. das Setzen starker Reize, mit Igelball, Chili-Schoten oder Brausetabletten auf der Zunge, Ammoniak als Riechprobe u. ä.

Interessant könnte auch die Frage sein, unter welchen Situationen die Dissoziationen häufiger auftreten und wann nicht; und woran es liegt.

Lieben Gruß

André
 
Interessant könnte auch die Frage sein, unter welchen Situationen die Dissoziationen häufiger auftreten und wann nicht; und woran es liegt.
Hallo zusammen,
mir kommt auch dabei die Frage auf, was passiert wenn sie die Dissoziationen nicht hätte? Was würde dann passieren? Einfach mal auch so als Idee....
Ich unterstelle nun mal bestimmt keine Absicht, aber was müsste sie an Dingen übernehmen wenn sie die Erkrankung nicht hätte? Was würde sie dann machen wollen...wenn "gesund"? Gibt es da auch Dinge die ihr Angst machen?

Liebe Grüße Brady
 
Dissoziation

Hi Brady!

Du schreibst:

Was passiert wenn sie die Dissoziationen nicht hätte?, was würde dann passieren?

Nun, diese Frage ist ein alter Hut und nennt sich sekundärer Krankheitsgewinn, ist aber in der Regel nicht die Krankheitsursache.

Und wenn es so wäre, was für ein Leid müsste dahinter stecken, wenn jemand Dissoziationen mit Krankheitswert (denn das hat es, wenn man Gefahr läuft, stundenlang im Wald [und als Frau!] verloren zu gehen) als wesentliche Problemlösungsmöglichkeit wählt.

Da ich auch sehr häufig mit dissoziierten Menschen arbeite, habe ich mich damit beschäftigt und Fortbildungen besucht. Hier ein paar Essentials (in der Hoffnung, nicht neunmalklug zu erscheinen):
1. Der Begriff Dissoziation wird in letzter Zeit etwas inflationär benutzt.

2. Dissoziation wird in der Regel als Abwehrmechanismus verstanden, der in Situationen benötigt wird, in denen unaushaltbares auszuhalten ist. Er kann so dass Überleben sichern, indem nicht bewusstseinfähige Wahrnehmungen (z. B Traumata) eben nicht ins Bewusstsein gelassen - dissoziiert - werden.

Die Berichte von Helfern, die trotz extrem schmerzhafter Verletzungen (Oberschenkelhals#) anderen Opfern geholfen haben, obwohl sie sich vor Schmerzen nicht hätten bewegen können sollen, sind bekannt. In diesem Falle ist das eigene Überleben und das der Mitmenschen zu wichtig und der Schmerz nicht bewusstseinsfähig, also wird er dissoziiert, "abgespalten". Biochemisch funktioniert das z. B. mithilfe von Adrenalin und Endomorphinen.

3. Menschen, die seit der Kindheit missbraucht / misshandelt wurden, haben "Übung" im Dissoziieren bzw. keine Übung im "Assoziieren".
Das Lernen von Assoziieren, also das zunehmende ganzheitliche Wahrnehmen, dass z. B. die schimpfende Mutter die gleiche Mutter ist, die ein Gute-Nacht-Lied singt, muss erst gelernt werden und ist ein wichtiger Teil der kindlichen Reifung.
Und wer so lange Misshandlungen ausgesetzt ist, der hat zum einen eine niedrige Reizschwelle, bei der Dissoziationen ausgelöst werde, und zweitens viele Reize, die mit der Bedeutung GEFAHR einhergehen (sog. Trigger), so das er kaum dissoziationsauslösenden Reizen entkommen kann (Dunkelheit, Badezimmer, Männerstimmen, Aftershave, Farben . . . .)

4. Ein häufiges Problem der Menschen, die dissoziieren, dass die Dissozition eine überlebensnotwendige funktionierende Strategie war (sonst hätten sie sich vielleicht längst umgebracht), aber inzwischen ein "Selbstläufer" geworden ist, der eher schädlich ist und verhindert, Fertigkeiten zu entwickeln, um mit Krisen anders umzugehen.

5. Manche erklären Dissoziation mit der begrenzten Aufmerksamsfähigkeit. Wenn sich traumatische Erinnerungen zurück ins Bewusstsein drängen (flashbacks), dann sind sie so beeindruckend, dass sie die ganze Aufmerksamkeitsfähigkeit des Gehirns absorbieren und für die Realität "nichts übrigbleibt", also man nicht oder wenig auf die Umwelt reagieren kann.

6. Die körperorientierten Psychologen erklären Dissoziation mit einem Kaninchen, das vor einer Schlange flieht und in eine Sackgasse gerät. Es kann nicht mehr fliehen, es kann nicht zurück (da wartet die Schlange) und es kann nicht kämpfen (keine Waffen). Darum greift es zur letztmöglichen Überlebensstrategie: dem Totstelreflex:
Svhlangen essen Lebensfutter und kein Aas. Unter dem Hochstress wird der Totstellreflex ausgelöst, der den Kreislauf zentralisiert (kältere Haut - wirkt tot), die Atmung wird flach (fast unsichtbar - wirkt tot), der Muskeltonus wird stark herabgesetzt (keine Muskelspannung - wirkt tot) und für begrenzte Zeit wird die Willkürmotorik stark eingeschränkt (also keine verräterischen Bewegungen wie Zucken, Zittern oder gar nachsehen - wirkt tot); über die kühlere Haut (Kreislauf zentralisiert) und über Hormone wird eine relative Anästhesie der Haut erreicht, also wenn die Schlange probeweise beisst, wird der Körper nicht auf Alarm und lebendig gestellt, kein Reflex ausgelöst (wirkt also auch tot), und sollte es dennoch kleine Wunden geben, so ist der Blutverlust aufgrund der Zentralisierung gering.
Wie man sehen kann, eine sehr effektive Überlebensstrategie, die an Dissoziation erinnert.

7. und leztens: Dissoziieren an sich ist ein sehr gesunder Vorgang, der uns das Alltagsleben sehr erleichtert, denn wenn wir immer an all unsere Sorgen während der Arbeit oder während des Autofahrens denken würden, oder wenn uns die Schuhfarbe unser Kollegen genausowichtig ins Gehirn dringen würde wie die Übergabe, dann wäre das Leben sehr sehr schwer.

Hoffe, der Beitrag informiert und verwirrt nicht.

Hoffe, er ist nicht zu "Lehrerhaft"

Lieben Gruß

Friedrich


 
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Und wenn es so wäre, was für ein Leid müsste dahinter stecken, wenn jemand Dissoziationen mit Krankheitswert (denn das hat es, wenn man Gefahr läuft, stundenlang im Wald [und als Frau!] verloren zu gehen) als wesentliche Problemlösungsmöglichkeit wählt.
Hallo Friedrich,

Auch wenn es ein alter Hut ist, sollte es immer wieder mit bedacht werden.
Zudem es nur ein Teilaspekt ist. Die Sicht dorthin was Angst macht, sollte in allen Richtungen offen sein. Die Frage sollte man immer stellen.....

Es steckt immer ein grosses Leid dahinter und ich glaube auch nicht, dass sich jemand sowas bewusst als Problemlösungsmöglichkeit aussucht.
Dann nach einem wochenlangen Krankenhausaufenthalt, man muss z.B. wieder zur Arbeit zurück, dies kann eine Verschlechterung auslösen. Die Symptome werden wieder mehr....Deshalb sollte man immer genau schauen, wohin geht oder muss der Patient nach der Behandlung. Welche Anforderung erwartet ihn?



Gruss Brady
 
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Hallo Friedrich,
habe Deinen Beitrag gelesen und ihn mir sofort ausgedruckt. Habe zwar schon einiges zum Thema gelesen, aber das fand ich echt gut. Würde mich sehr freuen wenn Du ähnlich gute Texte mit Quellen nennen könntest.
Lieben Gruß, Lex.
 
Hallo Friedrich,
vielen Dank für Deinen Tipp mit dem Handy, den ich an die Patientin weiter gegeben habe.
Mich hat auch Dein Blick für die große Not der Patientin, die hinter ihrer Symtomatik steht, berührt und ich findes es gut, wie Du das formuliert hast.
Du schreibst, das Du viel mit dissoziativen Patienten arbeitest und mich würde interessieren wo und wie.
Viele Grüße von Monika.
 
Quellen

Hi Lex!

Zu den Quellen:

Die Geschichte mit dem Kaninchen beruht auf einer Fortbildungsveranstaltung der AWP Freiburg zur Therapie von Borderline - Patientinnen.

Die anderen Angaben beruhen auf meiner Berufserfahrung mit dissoziierenden Patienten, diversen Fortbildungen und insbesondere folgender Literatur:

Peter Fiedler: Dissoziative Störungen und Konversion
Huber, Michaela: Wege der Traumabehandlung
Huber, Michaela: Trauma und die Folgen
Putnam, Frank: Diagnose und Behandlung der Dissoziativen Identitätsstörung
Reddemann et al.: Psychotherapie der dissoziativen Störungen
Linehan, Marsha:Trainingsmanual zur Dialektisch-Behavioralen Therapie der Borderline - Persönlichkeitsstörung
Linehan, Marsha: Handbuch der Borderline - Persönlichkeitsstörung
* West, Cameron: Erste Person Plural
* Jäckel, Karin: Die Fürstin der Nacht

Die beiden letzten (*) sind Berichte von Überlebenden schwerster Misshandlungen und wie ein autobiographischer Roman geschrieben.

Die anderen sind Fachbücher von sehr fähigen und international anerkannten Fachleuten, die weder Tatsachen leugnen noch sich Robin-Hood-mäßig berufen fühlen, ihre Patienten zu retten und die heile Welt wieder herzustellen, sondern die sehr professionelle Hilfeangebote entwickelt haben und z. B. Hilfreiche "Basics" (~Grundhaltungen) im Ungang mit diesen Trauaerfahrenen herausgearbeitet haben.

Das schwerste bei der Bearbeitung solcher Literatur ist das Eingeständnis, dass es offensichtlich Menschen gibt, die so mit anderen Menschen, teils Kleinstkindern, umgehen.

Friedrich
 
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