Dissoziation
Hi Brady!
Du schreibst:
Was passiert wenn sie die Dissoziationen nicht hätte?, was würde dann passieren?
Nun, diese Frage ist ein alter Hut und nennt sich sekundärer Krankheitsgewinn, ist aber in der Regel nicht die Krankheitsursache.
Und wenn es so wäre, was für ein Leid müsste dahinter stecken, wenn jemand Dissoziationen mit Krankheitswert
(denn das hat es, wenn man Gefahr läuft, stundenlang im Wald [und als Frau!] verloren zu gehen) als wesentliche Problemlösungsmöglichkeit wählt.
Da ich auch sehr häufig mit dissoziierten Menschen arbeite, habe ich mich damit beschäftigt und Fortbildungen besucht. Hier ein paar Essentials (in der Hoffnung, nicht neunmalklug zu erscheinen):
1. Der Begriff Dissoziation wird in letzter Zeit etwas inflationär benutzt.
2. Dissoziation wird in der Regel als Abwehrmechanismus verstanden, der in Situationen benötigt wird, in denen unaushaltbares auszuhalten ist. Er kann so dass Überleben sichern, indem nicht bewusstseinfähige Wahrnehmungen (z. B Traumata) eben nicht ins Bewusstsein gelassen - dissoziiert - werden.
Die Berichte von Helfern, die trotz extrem schmerzhafter Verletzungen (Oberschenkelhals#) anderen Opfern geholfen haben, obwohl sie sich vor Schmerzen nicht hätten bewegen können sollen, sind bekannt. In diesem Falle ist das eigene Überleben und das der Mitmenschen zu wichtig und der Schmerz nicht bewusstseinsfähig, also wird er dissoziiert, "abgespalten". Biochemisch funktioniert das z. B. mithilfe von Adrenalin und Endomorphinen.
3. Menschen, die seit der Kindheit missbraucht / misshandelt wurden, haben "Übung" im Dissoziieren bzw. keine Übung im "Assoziieren".
Das Lernen von Assoziieren, also das zunehmende ganzheitliche Wahrnehmen, dass z. B. die schimpfende Mutter die gleiche Mutter ist, die ein Gute-Nacht-Lied singt, muss erst gelernt werden und ist ein wichtiger Teil der kindlichen Reifung.
Und wer so lange Misshandlungen ausgesetzt ist, der hat zum einen eine niedrige Reizschwelle, bei der Dissoziationen ausgelöst werde, und zweitens viele Reize, die mit der Bedeutung GEFAHR einhergehen (sog. Trigger), so das er kaum dissoziationsauslösenden Reizen entkommen kann (Dunkelheit, Badezimmer, Männerstimmen, Aftershave, Farben . . . .)
4. Ein häufiges Problem der Menschen, die dissoziieren, dass die Dissozition eine überlebensnotwendige funktionierende Strategie war (sonst hätten sie sich vielleicht längst umgebracht), aber inzwischen ein "Selbstläufer" geworden ist, der eher schädlich ist und verhindert, Fertigkeiten zu entwickeln, um mit Krisen anders umzugehen.
5. Manche erklären Dissoziation mit der begrenzten Aufmerksamsfähigkeit. Wenn sich traumatische Erinnerungen zurück ins Bewusstsein drängen (flashbacks), dann sind sie so beeindruckend, dass sie die ganze Aufmerksamkeitsfähigkeit des Gehirns absorbieren und für die Realität "nichts übrigbleibt", also man nicht oder wenig auf die Umwelt reagieren kann.
6. Die körperorientierten Psychologen erklären Dissoziation mit einem Kaninchen, das vor einer Schlange flieht und in eine Sackgasse gerät. Es kann nicht mehr fliehen, es kann nicht zurück (da wartet die Schlange) und es kann nicht kämpfen (keine Waffen). Darum greift es zur letztmöglichen Überlebensstrategie: dem Totstelreflex:
Svhlangen essen Lebensfutter und kein Aas. Unter dem Hochstress wird der Totstellreflex ausgelöst, der den Kreislauf zentralisiert (kältere Haut - wirkt tot), die Atmung wird flach (fast unsichtbar - wirkt tot), der Muskeltonus wird stark herabgesetzt (keine Muskelspannung - wirkt tot) und für begrenzte Zeit wird die Willkürmotorik stark eingeschränkt (also keine verräterischen Bewegungen wie Zucken, Zittern oder gar nachsehen - wirkt tot); über die kühlere Haut (Kreislauf zentralisiert) und über Hormone wird eine relative Anästhesie der Haut erreicht, also wenn die Schlange probeweise beisst, wird der Körper nicht auf Alarm und lebendig gestellt, kein Reflex ausgelöst (wirkt also auch tot), und sollte es dennoch kleine Wunden geben, so ist der Blutverlust aufgrund der Zentralisierung gering.
Wie man sehen kann, eine sehr effektive Überlebensstrategie, die an Dissoziation erinnert.
7. und leztens: Dissoziieren an sich ist ein sehr gesunder Vorgang, der uns das Alltagsleben sehr erleichtert, denn wenn wir immer an all unsere Sorgen während der Arbeit oder während des Autofahrens denken würden, oder wenn uns die Schuhfarbe unser Kollegen genausowichtig ins Gehirn dringen würde wie die Übergabe, dann wäre das Leben sehr sehr schwer.
Hoffe, der Beitrag informiert und verwirrt nicht.
Hoffe, er ist nicht zu "Lehrerhaft"
Lieben Gruß
Friedrich