Streit um die Rufbereitschaft

Ute

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Hannover
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Krankenschwester, Fachkraft für Leitungsaufgaben in der Pflege (FLP)
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Streit um die Rufbereitschaft


Eindeutig klären, wann und wie der Bereitschaftsdienst via Handy vergütet wird

Ist ein Pflegebetrieb bei Fragen der Vergütung der Rufbereischaft nicht automatisch an Tarifverträge gebunden, sollte die Vergütungsregelung eindeutig per Vertrag oder Betriebsvereinbarung geklärt werden. Wichtig ist dabei vor allem, dass jeder Mitarbeiter über diese betriebsinternen Regelungen Bescheid weiß - nur so lassen sich arbeitsrechtliche Querelen im Nachhinein vermeiden.



"Die neue Pflegekraft arbeitet super", berichtet Pflegedienstleiter Norbert F. seinem Chef. Dem war es gelungen, eine gelernte Altenpflegerin aus dem städtischen Altenheim zu einem Wechsel in den ambulanten Pflegebetrieb zu bewegen. Als Norbert F. und sein Chef drei Monate später wieder über die neue Mitarbeiterin sprechen, beginnt die Beurteilung des Pflegedienstleiters zwar mit dem gleichen Wortlaut, endet aber mit der Feststellung, dass die neue Pflegekraft auch "super" darüber informiert sei, was im Pflegebereich von den Arbeitsgerichten entschieden würde. "Diese Woche hat sie mir zwei Urteile des Bundesarbeitsgerichts präsentiert", weiß der geplagte Pflegedienstleiter jetzt zu berichten. Der Ärger begann in der monatlichen Dienstbesprechung, bei der wie immer abgesprochen wurde, welcher Mitarbeiter an welchem Wochenende das Diensthandy mitnimmt, um im Notfall erreichbar zu sein. Wie üblich wurde dabei auf die Freiwilligkeit dieser Maßnahme hingewiesen und das Handy nur an den ausgegeben, der am Wochenende "nichts weiter vor hat". Die neue Mitarbeiterin erklärte sich zur Rufbereitschaft bereit. Sie sei sowieso mit dem Renovieren ihrer Wohnung beschäftigt, gab sie an, könne also im Notfall auch schnell einen Einsatz übernehmen. Tatsächlich wurde dann am Samstag auch ein Kurzeinsatz benötigt, allerdings war es mit der schnellen Hilfe nichts. Denn als die Bereitschaftshilfe eine Stunde nach dem Anruf am Einsatzort ankam, hatte eine Nachbarin bei der Pflegeperson bereits alles erledigt.




Einvernehmen reicht nicht immer
Sein Nachspiel fand der Bereitschaftsdienstes des besagten Wochenendes, als die neue Mitarbeiterin ihre Gehaltsabrechnungen bekam. "Es fehlt die Rufbereitschaftsvergütung für das ganze Wochenende", bemängelte sie in einer schriftlichen Korrektur der Abrechnung, die sie der Geschäftsleitung vorlegte. Als sich der Pflegedienstunternehmer den Vorgang vom Pflegedienstleiter einschließlich der von der Pflegekraft zitierten Gerichtsurteile erläutern lässt, findet er sich plötzlich im dicksten arbeitsrechlichen Dickicht wieder.

Fälle wie dieser kommen nicht selten vor: Pragmatisch und einvernehmlich werden Notfälle vorbesprochen, Abreden über eventuelle Einsätze an Wochenenden getroffen, wobei die in unserem Fall geschilderte "Handy-Methode" eine oft genutzte, praxisgerechte Lösung darstellt. Trotzdem kommt es dann aber zu Konflikten, vor allem wenn zwei Konstellationen eintreten:

1. Es werden Abreden getroffen, bei denen die Vertragsparteien jeweils andere Vorstellungen über die Rechtsfolgen haben. Im geschilderten Beispiel ist die Auffassung der Pflegekraft, die "Handyabrede" würde eine Bereitschaftsvergütung auslösen, während der Arbeitgeber davon ausgeht, dass es sich um eine freiwillige Maßnahme han-dele und nur der tatsächliche Einsatz bezahlt werden müsse.
2. Es gilt ein Tarifvertrag, der die Frage des Bereitschaftsdienstes in allen Einzelheiten regelt. In diesem Fall ist die Frage, ob die Beteiligten unterschiedliche Auffassungen über die Abrede haben, genauso irrelevant, wie eine eindeutige Abrede, die beide Seiten zwar gleich interpretieren, die aber dann unwirksam ist, wenn sie von den tarifvertraglichen Regelungen zuungunsten des Arbeitnehmers abweicht.



Tarif oder Betriebsvereinbarung
Zur Beurteilung von Rechtsfragen den Bereitschaftsdienst betreffend ist daher immer zunächst die Frage der Tarifbindung zu klären. Liegt eine solche vor, erübrigen sich Diskussionen über die Frage, was einzelvertraglich zum Bereitschaftsdienst vereinbart wurde. Auch die Frage, wann Rufbereitschaft und wann echter Bereitschaftsdienst vorliegt, ist dann nicht durch Individualvereinbarung regelbar, sondern allein aus den einschlägigen Tarifvertragsregelungen abzuleiten.
Im vorliegenden Fall hat die rechtskundige Pflegekraft offensichtlich eine Tarifbindung unterstellt, denn die von ihr zitierten Entscheidungen zur Rufbereitschaft sind im Sinne des BAT ergangen.
In der so genannten Funk-Telefon-Entscheidung hat das Bundesarbeitsgericht in der Tat entschieden (6 AZR 900/98, vom 29. Juni 2000), dass in den Handyfällen eine zu bezahlende Rufbereitschaft im Sinne des § 15 Abs. 6b BAT vorliegt:

Im zu verhandelnden Fall hatte der Arbeitgeber diese Pflicht zur Erreichbarkeit nicht als bezahlte Zeit angesehen und begründete dies damit, dass keine Rufbereitschaft vorliege, weil der Arbeitnehmer keinerlei Beschränkungen hinsichtlich eines Aufenthaltsortes habe. Allein das Mitführen eines empfangsbereiten Funktelefons stelle keine Belastung dar, die eine Rufbereitschaftsvergütung rechtfertige.

Dies sah das Bundesarbeitgericht anders: Der Arbeitnehmer sei verpflichtet, Aufenthaltsorte zu wählen, an denen er über ein von ihm ständig betriebs- und empfangsbereit zu haltendes Funktelefon erreicht werden könne. Er sei gezwungen, sich von dem Funktelefon nicht außer Hörweite zu entfernen und Orte zu meiden, an denen Funktelefone nicht betrieben werden könnten.

Im zweiten Urteil (6 AZR 214/00 vom 31. Januar 2002), das die Altenpflegerin in unserem Beispiel vorlegte, war die Frage aus dem BAT-Bereich entscheidend, welche Konsequenzen das späte Eintreffen der Pflegekraft nach dem telefonischen Abruf habe.

Auch hier stand das Bundesarbeitsgericht der Arbeitnehmerin zur Seite. Im verhandelten Fall hatte der Arbeitgeber angeordnet, dass bei Rufbereitschaft die Arbeit in-nerhalb von 20 Minuten nach Abruf aufgenommen werden müsse. Dies sei erforderlich, um eine ord-nungsgemäße Behandlung der Patienten in Notfällen sicherzustellen und Haftungsrisiken auszuschließen.

Der Arbeitnehmer aber vertrat die Auffassung, dass sein Arbeitgeber zu dieser zeitlichen Vorgabe von 20 Minuten nicht berechtigt sei. Die Bundesrichter gaben dem Arbeitnehmer Recht: Der Kläger sei nicht verpflichtet, bei Rufbereitschaft die Arbeit innerhalb einer festgesetzten Zeitspanne nach Abruf aufzunehmen.

Wenn der Arbeitgeber aus betrieblichen Gründen darauf angewiesen sei, dass der Arbeitnehmer - zum Beispiel in Notfällen - spätestens innerhalb von 20 Minuten die Arbeit aufnehme, dann müsse er sich anderer tarifvertraglich zulässigerer Modelle bedienen. Er könne zum Beispiel Schichtdienst oder echten Anwesenheits-Bereitschaftsdienst anordnen.


Tarifbindung entscheidet
Würde man sich vor Gericht treffen, wäre den gerade erwähnten Urteilen zufolge der zu Beginn geschilderte Fall bei Tarifbindung klar pro Arbeitnehmer zu entscheiden. Die "Handy-Methode" ist danach Rufbereitschaft im Sinne des BAT. Ein Verstoß gegen die "20-Minuten-Ankunft" ist unerheblich.
Ob im Betrieb tatsächlich und einvernehmlich anders verfahren wird, ist dabei nicht von Belang, da von einem Tarifvertrag nicht zuungunsten des Arbeitnehmers abgewichen werden kann.
Einen Anspruch auf Rufbereitschaftsvergütung hätte die Arbeitnehmerin selbst dann, wenn sie eine abweichende Regelung selbst unterschrieben hätte.


Die Freiheit beginnt jenseits des BAT
Anders sieht es aus, wenn keine Tarifvertragsbindung vorliegt. Dann ist den Arbeits-vertragsparteien grundsätzlich freigestellt, einvernehmliche Regelungen zu treffen. Möglich ist es dabei, auf eine Vergütung zu verzichten und stattdessen ein höheres Gehalt zu vereinbaren. Auch Klauseln über die Erreichbarkeit des Einsatzortes in einer bestimmten Zeit sind dann denkbar und verstoßen nicht gegen höherrangiges Recht, sofern sie einhaltbar und zumutbar sind.
Die Klage der Mitarbeiterin um Bereitschaftsvergütung hat im Falle der Tariflosigkeit demnach zwar rechtlich weniger Erfolgschancen, tatsächlich kann aber hier der Arbeitgeber wegen "Beweisnot" den Kürzeren ziehen. Hat er die Rufbereitschaft beziehungsweise deren Nicht-Entlohnung nicht im Arbeitsvertrag schriftlich ausgeführt und kann er auch nicht nachweisen, dass zu einem späteren Zeitpunkt darüber eine Aufklärung stattgefunden hat, so wird das Gericht seine Entscheidung von der "Üblichkeit" abhängig machen. Und üblich ist nach Auffassung der Arbeitsgerichte, - sofern keine anderen Anhaltspunkte vorliegen - was Tarifverträge in diesen Angelegenheiten regeln. Somit sind wir wieder beim BAT mit seinen starren Regelungen zur Rufbereitschaft. Die große Freiheit der Tariflosigkeit nützt dem Arbeitgeber in diesem Fall also unter Umständen nichts.



Checkliste: Rufbereitschaft

Liegt eine Bindung an den BAT-Tarifvertrag vor? Tarifbindung liegt dann vor, wenn der Arbeitgeber einem Arbeitgeberverband angeschlossen und der Arbeitnehmer Gewerkschaftsmitglied ist.
Tarifbindung liegt aber auch dann vor, wenn sich der Arbeitgeber freiwillig den Vorschriften des BAT unterwirft, indem er im Arbeitsvertrag auf die tariflichen Bestimmungen Bezug nimmt.
Liegt keine Tarifbindung vor, ist die Frage der Rufbereitschaft frei vereinbar. Hier sind der Phantasie keine Grenzen gesetzt. Zu beachten sind jedoch die allgemeinen Vorschriften des Arbeitszeitgesetzes.
Praktisch besonders zu empfehlen sind Ruf-Bereitschaftsklauseln, die klarstellen, dass im Grundgehalt Rufbereitschaften bis zu einer bestimmten Größenordnung enthalten sind.


Thomas Muschiol
Der Autor ist Rechtsanwalt in Freiburg und Verfasser zahlreicher Beiträge auf dem Gebiet des Arbeits- und Sozialversicherungsrechts

HP 06/2002

Quelle: www.vincentz.net
 

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