Das Mythos der aktivierenden und fördernden Pflege

Elisabeth Dinse

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29.05.2002
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Beruf
Krankenschwester, Fachkrankenschwester A/I, Praxisbegleiter Basale Stimulation
Akt. Einsatzbereich
Intensivüberwachung
Es ist wieder ein Tag dieser Tage- man hat versucht das Beste zu geben. Die Zeit ist begrenzt, man muss schnelle Entscheidungen treffen und nicht selten entscheidet man wahrscheinlich nicht patientengerecht.

So ging es mir heute. Ich hab die falsche Entscheidung getroffen unter Zeitdruck und den einen Patienten versucht mit viel Überredungskunst zu mobilisieren obwohl da Widerstand kam und einem anderen Patienten der die Mobilisierung wollte, diese verweigert. Ich habe nach "Drehbuch" gehandelt??? Habe selbst nicht "hingefühlt"??? Hab mich triggeren lassen durch die Wahrnehmung anderer ??? Ich weiß es nicht.

Und dann fällt mir heute dieses Buch in die Hände, dass mich zum Nachdenken anregt: Die Jahre, die uns bleiben: Gedanken einer Alten über das Alter von Sybil Gräfin Schönfeldt

Es nützt einem oder einer Alten nichts, wenn ein Junger — sei es nun der Arzt oder das eigene Kind — ungeduldig sagt: »Nun gib dir doch Mühe, mach schon!« Wer alt zu werden beginnt, würde gerne machen, aber er kann nicht, und das ist der wahre Schmerz, nicht das plötzlich stechende Gelenk.

Bei der alten Frau, die angefahren wurde und sich die Knochen gebrochen hatte, nun im Krankenhaus liegt, erst Intensivstation, dann Krankenzimmer, dann Rehaklinik, geht es nicht nur um Kallusbildung. Es geht um den Schock, nun vielleicht über eine Grenze gestoßen worden zu sein, unwiederbringlich.

Ihr nützt es nichts, wenn die Heilgymnastin sagt: »Und hoch den Fuß und beugen und kräftig — hoch! Höher! Aber das können wir doch!« Es hilft ihr nichts, wenn ein Besucher sagt: »Also, ich hatte praktisch das gleiche, und ich bin nach vierzehn Tagen wieder auf den Beinen gewesen!«

Es nützt ihr nichts, wenn ihr Wohlmeinende den aller- neuesten »Ratgeber für unsere Senioren« mitbringen, in dem die erfreulichsten Statistiken über das Leben im Alter stehen und Fitneßprogramme für den Ruhestand.

Vielleicht möchte sie sich ja betrügen und läßt sich von all den jungen Stimmen einlullen. Aber sowie sie versucht, mit eigener Kraft — Kraft? — die Beine auch nur um Zentimeter zu heben, muß sie erkennen, daß sich etwas verändert hat.

Sicher, »alte Menschen heilen verblüffend schnell«, wie mir ein Arzt sagte, als ich einen alten Freund nach seiner Krebsoperation besuchte. Aber der alte Mensch hat auch ein altes Inneres, und das braucht länger als die Narbe nach dem Operationsschnitt, um sich mit der neuen Situation abzufinden.
Tun wir wirklich immer das Richtige, wenn wir von aktivierender und fördernder Pflege sprechen? Geht es dabei vielleicht weniger um die somatischen Aspekte: schnell wieder mobil- was das auch immer bedeuten mag? Geht es vielleicht eher darum, den Patienten in diese neue Situation zu begleiten und ihm da Stütze zu sein?

Aber- so etwas ist nicht vorgesehen im derzeitigen Gesundheitswesen. Wir lernen zwar diese Aspekte- ausführen dürfen wir sie nicht mehr. Das Tagesgeschehen läuft nach der Devise: schnell, schnell.

Wie mag es uns gehen, wenn wie im Alter angekommen sind?

Elisabeth
 
Ein Wunderbarer Beitrag, der berührt...Fördern und Fordern lautet leider viel zu häufig die Devise, ohne dabei auf die individuellen emotionalen, physischen und psychischen Befindlichkeiten des Patienten einzugehen. Als wäre das einzige Ziel, was es gilt zu erreichen, der sichtbare pflegerische Erfolg ( der sich eben machmal drastisch von dem Patientendefinierten unterscheidet).

Geht es vielleicht eher darum, den Patienten in diese neue Situation zu begleiten und ihm da Stütze zu sein?

Zumindest sollte es viel eher darum gehen.
 
Das ist das, was wir in Deutschland noch nicht begriffen haben. Pflege ist die Interaktion mit dem Patienten. Pflege beschäftigt sich damit, was Krankheit mit dem Patienten macht, wie er sie wahrnimmt etc.
Für die Reparatur des Schadens gibt´s die Mediziner. Die Assistenz bei ärztlichen Therapien sollte nur ein Teil von Pflegetätigkeit sein.

Tun wir wirklich immer das Richtige, wenn wir von aktivierender und fördernder Pflege sprechen?
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Das Tagesgeschehen läuft nach der Devise: schnell, schnell.
Die traurige Realität stellt sich mir oft so dar: Patient wird in "A3" oder "muß gewaschen werden" kategorisiert und dann läuft das Programm ab, daß am wenigstens Ressourcen verbraucht. Mir stellt sich deshalb auch oft die Frage, warum überhaupt Fachkräfte diese Tätigkeit machen, wenn dies so unreflektiert passiert. Naßmachen und Abtrocknen kann wohl jeder.

Ein wesentliches Ziel unserer Arbeit ist es, den Patienten zurück zur größtmöglichen Selbständigkeit zu führen. Bei unseren Zielen dürfen wir aber die des Patienten nicht vergessen.

in diese neue Situation zu begleiten
So wäre es zu wünschen, anstatt des Abfertigens vielerorts.
Wie mag es uns gehen, wenn wie im Alter angekommen sind?
Ich werde auf der Veranda meines Ferienhauses am Meer liegen und meine Angehörigen kümmern sich um mich liebevoll.... bitte nicht aufwecken!...