Eine Wisthleblowerin und ihr Rechtsstreit

silverlady

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Urteil zur Meinungsfreiheit

Heute wurde ein Urteil über eine Pflegekraft verkündet, die Mängel an ihrem Arbeitsplatz bekannt gemacht hat und deswegen fristlos von Vivantes gekündigt wurde.


'Whistleblower' genießen Rechtsschutz
Ärzte Zeitung, 21.07.2011
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"Whistleblower" genießen Rechtsschutz

STRASSBURG (dpa). Die fristlose Kündigung einer Arbeitnehmerin wegen der Veröffentlichung von Missständen bei ihrem Arbeitgeber verstößt gegen die Menschenrechtskonvention. Das entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR).
Die Straßburger Richter schützen damit sogenannte "Whistleblower" - Arbeitnehmer, die auf Missstände in Unternehmen oder Institutionen öffentlich aufmerksam machen.
Im konkreten Fall hatte eine Altenpflegerin Strafanzeige gegen ihren Arbeitgeber erstattet, worauf dieser ihr fristlos kündigte. Der EGMR sieht darin eine Verletzung der Meinungsfreiheit und sprach der Pflegerin eine Entschädigung von insgesamt 15 000 Euro zu.
 
Urteil zu Tippgebern: Arbeitnehmer dürfen Missstände öffentlich machen - SPIEGEL ONLINE - Nachrichten - Wirtschaft

auch hier zu finden, reißerisch???


Der Schluss ist allerdings - oh mein Gott!
..."Eine Sprecherin des Klinikbetreibers wollte das Urteil nicht kommentieren. Sie wies darauf hin, dass die deutschen Arbeitsgerichte die Kündigung bestätigt hatten. "Das arbeitsrechtliche Verfahren in Deutschland ist ausgeurteilt." Die Entscheidung aus Straßburg habe keine Auswirkungen auf die Gültigkeit des arbeitsgerichtlichen Urteils."....

Somit - doch alles wieder - relativiert. Echt super.
 
Ich bezweifle, dass die deutschen Arbeitsgerichte sich gegen das Europäische stellen. Die Kliniksprecherin sollte da mal eher den Ball flach halten.
 
Ich bezweifle, dass die deutschen Arbeitsgerichte sich gegen das Europäische stellen. Die Kliniksprecherin sollte da mal eher den Ball flach halten.

sorry, hätt doch mehr einfügen sollen, also hier das ganze Ende des Artikels, den ich gelesen hatte, aber nicht so wichtig genommen hab

"Eine Sprecherin des Klinikbetreibers wollte das Urteil nicht kommentieren. Sie wies darauf hin, dass die deutschen Arbeitsgerichte die Kündigung bestätigt hatten. "Das arbeitsrechtliche Verfahren in Deutschland ist ausgeurteilt." Die Entscheidung aus Straßburg habe keine Auswirkungen auf die Gültigkeit des arbeitsgerichtlichen Urteils.
Formal ist das richtig: Die Beschwerde vor dem EGMR richtet sich immer gegen den Staat, dem eine Entscheidung zuzurechnen ist, hier also gegen die Bundesrepublik.
Ob die Altenpflegerin tatsächlich von der Entscheidung profitiert, steht noch nicht fest: Das Urteil des EGMR ist noch nicht rechtskräftig. Die Bundesregierung hat drei Monate Zeit, um Einspruch einzulegen und die Verweisung an die Große Kammer des Gerichtshofs zu beantragen."
 
Die EMGR hat auch nicht den Arbeitgeber verklagt - das kann sie gar nicht - sondern die Bundesrepublik Deutschland. Die müsste der Altenpflegerin die Entschädigung bezahlen, wenn das Urteil rechtskräftig wird.

Es könnte höchstens zu einem Präzedenzfall führen, so dass whistleblowers in Zukunft arbeitsrechtlich anders behandeln werden.
 
*grübel* hatten wir vor kurzem net Datenschutz als Thema und das das Ausplaudern von Internas strafbar ist?

Worum geht es hier eigentlich? Das das Aufdecken von Mißständen geahndet wird oder um die prompte Entlassung nach dem Aufdecken?

Elisabeth
 
Um die prompte Entlassung. Diese war laut dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte nicht angebracht, da die Rechte der Bewohner schwerer wiegen als das Ansehen des Arbeitgebers.

Das deutsche Arbeitsrecht macht da bis jetzt keinen Unterschied. Da zählt nicht, was und warum Du was ausplauderst. Und das könnte sich jetzt möglicherweise ändern.

Whistleblowers gibt's schon lange, auch im Gesundheitswesen, aber die meisten kündigen selbst und distanzieren sich damit von dem Betrieb, den sie angezeigt haben. (Ich würde da auch nicht mehr arbeiten wollen, Ihr etwa?)
 
Also wenn mein Arbeitgeber dermaßen schlechte Bedingungen bietet, dass ich damit an die Presse gehe, würde ich auch kündigen. Gerade heutzutage, was hält einen denn noch? 'nen Job findet man leicht.
 
Also wenn mein Arbeitgeber dermaßen schlechte Bedingungen bietet, dass ich damit an die Presse gehe, würde ich auch kündigen. Gerade heutzutage, was hält einen denn noch? 'nen Job findet man leicht.


Das kann ich nur unterschreiben.

Auch wenn ich die Arbeitgeber nicht in Schutz nehmen will, denn es ist schrecklich was da passiert, kann ich sie gut verstehen, das sie einen Arbeitnehmer der damit an die Presse geht, kuendigen!
 
Es geht hier nicht nur darum, dass es jemandem bei einem Arbeitnehmer nicht gefällt, sondern hauptsächlich um die Sicherheit und Unversehrtheit der Bewohner bzw. Patienten
 
Die Altenpflegerin hat sich nicht an die Presse gewandt, sie hat den AG angezeigt, nachdem Gespräche mit Leitungen und Geschäftsführung im Sand verliefen. Firmeninterna an die BLÖD-Zeitung auszuplaudern hätte der Gerichtshof wahrscheinlich anders bewertet. Den Bewohnern wäre mit der Schlagzeile ja nicht geholfen - mit der Anzeige beim Gewerbeaufsichtsamt schon.

Aber würdet Ihr bei jemandem arbeiten wollen, den Ihr angezeigt habt? Die Spannungen möchte ich nicht aushalten wollen.
 
Wobei die Anzeige wegen Betruges ja leider auch mehr oder weniger im Sande verlief.

Was die Frage betrifft: Nein, das kann ich mir spontan nicht vorstellen. Ja, garantiert wird es zu Spannungen und sogar Repressalien kommen. Das zermürbt; also: will ich mir das antun oder statt dessen meine Kräfte lieber in Dinge investieren, "die mir gut tun"?

Andererseits halte ich es für möglich, dass es (bei mir jedenfalls) in so einer Situation auch zu einer Art von "Jetzt-erst-recht!"- Haltung kommen könnte.
Ich habe schließlich richtig gehandelt, fundamentalste Menschenrechte für Schutzbefohlene durchgesetzt - warum soll ich das Feld räumen wie jemand, der einfach nur unzufrieden ist oder anderswo was Besseres gefunden hat? Ich soll die Konsequenzen ziehen und das System läuft weiter wie bisher, bzw. feilt an einigen Dingen herum und schweigt ansonsten?

Ist es vielleicht auch möglich, dass man eine Kündigung des Arbeitnehmers in diesem Fall auch als Eingeständnis interpretieren könnte, aus rein persönlichen Motiven heraus irgendeine Anzeige erstattet zu haben? So, dass man ihn nach der Kündigung weiter unter Druck setzt, die Anzeige zurückzuziehen und der AG ist öffentlich rehabilitiert? Ich halte das für möglich. Um das zu vermeiden, würde ich tatsächlich in den sauren Apfel beißen und bleiben.
 
Wenn der AG den AN net auf legale Art und Weise los wird, dann wird er andere Wege finden. Bis hin zum Mobbing steht ihm alles frei. Mobbingopfer haben vor deutschen Gerichten ganz schlechte Karten. Die Hoffnung auf Abfindung dürfte damit auch in weite Ferne rutschen.

In dem Sinne ist das Urtel für den Betroffenen kaum was wert. Wenn dem AG aber mit dem Urteil untersagt wird entsprechende Bemerkungen in Beurteilungen zu machen..., wenn dem Betroffenen rechtliche Schritte des AG wegen Verletzung des Datenschutzes erspart bleiben... dann halte ich die Entscheidung für begrüßenswert.

Elisabeth
 
Ist es vielleicht auch möglich, dass man eine Kündigung des Arbeitnehmers in diesem Fall auch als Eingeständnis interpretieren könnte, aus rein persönlichen Motiven heraus irgendeine Anzeige erstattet zu haben? So, dass man ihn nach der Kündigung weiter unter Druck setzt, die Anzeige zurückzuziehen und der AG ist öffentlich rehabilitiert? Ich halte das für möglich. Um das zu vermeiden, würde ich tatsächlich in den sauren Apfel beißen und bleiben.

Jemanden unter Druck zu setzen, der nicht im eigenen Betrieb arbeitet, stelle ich mir schwer vor. Im eigenen Betrieb kann man mir auch mit legalen Methoden das Leben schwer machen - mir einen unbequemen Dienstplan schreiben, der dennoch dem Arbeitszeitgesetz entspricht, mich in einen anderen Bereich versetzen, mir uninteressante Arbeiten zuschanzen - aber wenn ich nicht mehr da bin? Kein Arbeitgeber wird sich soweit herablassen, mir Telefonstreiche zu spielen oder die Fenster einzuwerfen. Das ist es denen nicht wert.
 
Der Fall Heinisch
...
Die Berliner Altenpflegerin Brigitte Heinisch hat schwere Missstände in einem Pflegeheim von Vivantes öffentlich gemacht und wurde daraufhin fristlos entlassen. Jetzt will sich ihr ehemaliger Arbeitgeber außergerichtlich mit ihr einigen. "Wir wollen Frieden schließen mit Frau Heinisch und haben ihr ein Gespräch angeboten", sagte Vivantes-Chef Joachim Bovelet am Dienstag. Aber danach sieht es zurzeit nicht aus. Während Heinischs Anwalt eine Abfindung von 200.000 Euro netto, also etwa 350.000 Euro brutto, fordert, will Vivantes seiner ehemaligen Mitarbeiterin lediglich 70.000 Euro brutto bezahlen. "Wir haben die Summe nach bestem Wissen und Gewissen in Bezug auf entgangene Einkünfte und Altersansprüche berechnet", sagte Bovelet. Eine solche Berechnung sei auch vor Gericht üblich.

Heinisch hat ein Stück Rechtsgeschichte geschrieben. Im Juli gewann die 50-Jährige vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ihre Klage gegen die Bundesrepublik wegen Verletzung der Menschenrechtskonvention
... .
Bis zu dem Urteil aus Straßburg hatten deutsche Gerichte einschließlich des Bundesverfassungsgerichts die Kündigung durch Vivantes für rechtens erklärt.
...

Vivantes: Der Fall Heinisch | Berlin - Berliner Zeitung

Hut ab vor dieser Frau, die sich nix gefallen lassen hat und trotz der Folgeerkrankungen aus diesem Rechtsstreit bis zum EuGh gegangen ist. Ich wünsche ihr, dass die Entschädigungszahlung eine entsprechende Höhe hat.

Elisabeth
 

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