Wie geht ihr mit körperlicher Gewalt um?

jule24

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Krankenschwester
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Psychiatrie
Hallo,
ich schreibe hier das erste Mal. Ich wollte einfach ein paar Erfahrungen hören, wie ihr damit umgeht, wenn ihr von Patienten eine geklatscht bekommt?

Ich hab heut gezielt eine ordentliche Backpfeife bekommen. Ich arbeite seit über 4 Jahren in der geschlossenen Psychiatrie.

Was macht ihr in so einer Situation? Geht ihr weg? Und holt Kollegen? Oder haltet ihr den Patienten? Und ruft dann nach Kollegen? Fragt ihr den Patienten in der Situation was das soll?

Für mich war es nicht abzusehen, da ich normal mit dem Patienten gesprochen habe. Ich bin dann aus der Situation gegangen. Patient ist mir auch noch hinter her. Haben dann ein paar Kollegen geholt und fixiert. Ich frage mich nur gerade, ob ich hätte stehen bleiben sollen und die Person halten.

Lg Jule
 
Das wichtigste ist, dass diese Situationen immer individuell betrachtet und gelöst werden müssen - unter der Prämisse, dass Eigenschutz oberste Priorität hat!

Verabreicht mir ein Patient eine Ohrfeige und verschwindet dann gleich wieder, ist die akute Gefahrensituation erst einmal "überstanden", wie dann im Hinblick mit Reaktionen (gar Sanktionen) gegenüber diesem Verhalten verfahren wird, muss dann wohl später und in Ruhe im Team abgeklärt werden.

Ist die Ohrfeige der Anfang eines intensiven physischen Übergriffs an meiner Person, der dann Schläge, Tritte, Würgegriffe, etc. folgen, muss ich mich mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln aus der Situation befreien (Alarm auslösen, um Hilfe schreien, sich physisch zur Wehr setzen, zurückschlagen...).

Wie man im nachhinein psychisch mit solchen, durchaus als traumatisch erlebbaren Situationen persönlich fertig wird, steht auf einem anderen Blatt. Es gibt da unterstützende Hilfsangebote innerhalb des Arbeitsplatzbereiches (Klassiker: Gespräche mit allen möglichen Leuten), aber letztendlich muss man seine eigenen psychologischen Bearbeitungsprozesse (Stichwort "Resilenz") vernünftig generieren können um dies auf lange Sicht zu meistern.
 
Vielen Dank für die Antwort.
 
Die erste Reaktion - schon recht automatisch aus Reflex - ist das Auslösen des Alarms. Da wir Alarmgeräte am Körper tragen, kann dieser unverzüglich ausgelöst werden. Das wird auch dann noch innerhalb der Situation passieren und auch, wenn sich der Patient direkt wieder entfernen sollte, denn zunächst muss ich davon ausgehen, dass der Patient derart angespannt ist, dass auch eine weitere Gefahr für andere besteht. Die Hintergründe des Angriffs werden in dem Moment nicht bekannt sein. Sobald Unterstützung da ist, muss das weitere Vorgehen geklärt werden - besteht noch eine Gefahr und muss diese abgestellt werden oder hat sich der Patient glaubhaft beruhigt? Nicht zu vergessen ist auch die strafrechtliche Relevanz. Die Psychiatrie ist kein rechtsfreier Raum und ich persönlich neige - je nach Situation - auch dazu, den jeweiligen Patienten anzuzeigen, wenn ich verletzt wurde. Krankheit hin oder her. In unserem Haus gibt es außerdem die Möglichkeit, solche Situationen auch nach zu besprechen und aufzuarbeiten mit dafür zuständigen Personen.

Ben
 
Ich denke auch, dass die Reaktion individuell erfolgen müsste. Mir hat z.B. mal eine 80-jährige ältere, demenzkranke Dame kräftig eine gescheuert weil ich ihr Anliegen (wahrlich!) nicht verstanden habe. In diesem Falle bin ich lediglich auf körperliche, sichere Distanz gegangen und hab versucht bestmöglichst zu validieren... Erhalte ich von einem physisch deutlich besser gebauten Menschen auf Grund von Anspannung einen Schlag ins Gesicht, würde ich vermutlich sofort einen Alarm auslösen - nicht zwangsläufig um "Sanktionen" durchzuführen sondern zunächst einfach mal um zu zeigen "Hallo ich bin hier und benötige Unterstützung da mir eine Situation zu entgleiten scheint".

Kannst Du Deine Situation vielleicht etwas präzisieren? Ich finde es hierbei nämlich schon wichtig zu unterscheiden warum der körperliche Übergriff erfolgte (wurde dem Patienten z.B. "nur eine Zigarette verweigert"? Geschah dies im Rahmen einer psychotischen Verkennung u.ä.?)

Ich glaube ein falsch oder richtig gibt es in solchen Situationen nicht, hier muss jeder für sich selbst den "gefühlsmäßig" sicheren Weg wählen.

Lg
 
Erstmal danke für die hilfreichen Antworten.

Nochmal zur Situation: die Dame hat einen Besucher verkannt und am Arm gepackt um ihn fest zu halten. Ich bin zu ihr hin und habe sie gebeten ihn los zu lassen. Sie war in dem Moment nicht aggressiv. Sie hat ihn los gelassen und ich habe versucht ihr zu erklären, dass sie den Mann gerade verkannt hat. Als ich mich zur Seite gedreht habe, um zu gehen hat sie zu geschlagen. Ich konnte nichts abwehren, da ich die Situation als nicht angespannt empfunden habe.

Wir sind immer mindestens zu dritt im Dienst mit mindestens einem Mann. In diesem Dienst waren 2 Männer und 2 Frauen. Aber in dieser Situation waren beide Männer nicht auf Station und den Pipser hatten meine Kollegin und ich nicht scharf gemacht und der war im Dienstzimmer. Deswegen bin ich weg gegangen und wir haben einen stillen Alarm ausgelöst.

Lg
 
Wozu trägt man Pipser, wenn sie nicht "scharf gemacht" wurden? Sind die so hübsch, dass man die als Schmuckstück am Mann hat?

Elisabeth
 
Ich finde es wirklich schwierig die Situation aus der Ferne zu beurteilen und dir somit "Tipps" zu geben - wie schon gesagt, solche Situationen können nur individuell gelöst werden. Und derjenige der sich in der Situation befindet muss entscheiden was in dem Moment das Richtige ist....
 
Ich schliesse mich da meinen Vorrednern an. Die Situation so zu beurteilen ist wirklich schwierig.

Die erste Frage die bei mir auftauchte war allerdings: Gibt es bei Euch keine Trainings wie Deeskalation, Aggressionsmanagement oder dergleichen? Mittlerweile wird dazu ja wirklich sehr viel angeboten. Auch NACH einer solchen Situation stehen solche Trainer meist bereit um etwas aufzuarbeiten (ähnlich einer Supervision).

Aus meiner Sicht ist es unabdinglich, dass in der modernen Psychiatrie ein solches Training regelmässig (!) angeboten wird.

Ausserdem möchte ich gerne noch etwas zu dem Thema "Sanktionen" sagen: Eine Sanktion kann ja sowohl positiv, als auch negativ geschehen. Ich gehe aber mal davon aus (weil ein "Regelverstoss" vorlag), dass die negative Art gemeint ist.

Sanktionen sind im Allgemeinen ja auch bei den Patienten negativ belegt und kommt einer Bestrafung gleich. Dies sollten wir allerdings keinesfalls tun. Wenn wir Zwangsmassnahmen (und dies ist ja häufig die Massnahme nach gewalttätigen Übergriffen) durchführen und als Bestrafung oder eben Sanktionen titulieren, sind wir Richter und Henker zugleich. Es mag aber auch sein, dass dies anders gemeint war...

Zwangmassnahmen sind lediglich das letzte Mittel der Wahl zur Sicherung in Notsituationen. Aber wahrscheinlich ist dies nochmal ein anderes Thema...
 
- off topic -
@Peppo:
Du hast recht, "Sanktion" war definitiv das falsche Wort - so sollte das (von mir geschriebene) keinesfalls gemeint sein und wir titulieren Zwangsmaßnahmen ggü. den Patienten auch niemals so...
 
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Natürlich haben wir Deeskalationstraining, usw. Aber es gab da ehrlich gesagt nichts zu deeskalieren. Auch am nächsten Tag habe ich Gespräche erhalten.

Und ja mit dem Pipser war ein Fehler von uns, das stimmt.
 
Natürlich haben wir Deeskalationstraining, usw. Aber es gab da ehrlich gesagt nichts zu deeskalieren. Auch am nächsten Tag habe ich Gespräche erhalten.

Und ja mit dem Pipser war ein Fehler von uns, das stimmt.

Ich glaube, dass es jede Menge zu deeskalieren gab. Ein kluger Kopf hat mal gesagt:"Deeskalation ist die Weite des Raumes." Ich glaube, dass damit schon viel gesagt ist. Des Weiteren wissen wir ja alle bis heute nicht, warum Du geschlagen wurdest. Wir interpretieren nur. Und das muss nicht die Wahrheit sein...

Deeskalation bedeutet Haltung. Und damit meine ich nicht die des Körpers...
 
Ich glaube, dass es jede Menge zu deeskalieren gab.
Auch das ist nur eine Interpretation, lieber peppo! :P

Vielleicht gab es auch gar nichts, was darauf hindeuten könnte, dass man deeskalierend intervenieren müsste...

Manche Handlungen passieren einfach völlig überraschend und unerwartet.
 
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Ich habe, glaube ich, jetzt schon ein paar mal erwähnt, dass es überhaupt nicht abzusehen war. Ich redete ruhig mit der Person. Es war nicht mal ein Gespräch, da sie nicht geantwortet hat. Wie sie das sehr oft tut. Ich habe es ihr erklärt und als ich gehen wollte kam die Klatsche. Es gab absolut NICHTS zum Deeskalieren.
 
Mittlerweile wird das Thema Deeskalation weitläufig darauf beschränkt, dass man eine eskalierende Situation wieder beruhigt. Das ist aber mitnichten so. Das Thema ist viel umfassender anzuschauen. Prävention und Beziehung ist aus meiner Sicht mindestens genauso zu betrachten. Ich verweise da nochmal auf das vorherige Zitat.

@Tante Doll: Vielleicht ist es als Interpretation zu verstehen, war aber nicht als solches gemeint. Deeskalation beginnt bei mir und meiner Grundhaltung. Das war die Meinung. :wink1:

@jule24: Meine Äußerungen sollen nicht im geringsten einen Angriff auf Dein Verhalten darstellen. Ich bin überzeugt davon, dass Du für die Situation und den Kontext richtig gehandelt hast. Ich versuche nur dafür zu werben, dass Deeskalation weiter zu fassen ist. Daher meine Äußerung, dass es sicher etwas zu deeskalieren gab. Es war in der Situation wahrscheinlich einfach nicht ersichtlich (das könnte jetzt allerdings eine Interpretation sein... :P)

Gewalterfahrungen sind doch für uns Pflegende immer Ausnahmesituationen und stellen eine große Herausforderung dar. In dem Moment in dem man beginnt zu reflektieren, Meinungen einholt und sich präpariert ist ja schon ein sehr großer Schritt zur Deeskalation getan. Und das hast Du ja hier gemacht... :up:
 
Das hast du gut gesagt peppo. Danke für die ehrlichen Meinungen.
 
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@Peppo:

ich denke, ich habe dich schon richtig verstanden - auch bei mir beginnt Deeskalation nicht erst als Notwendigkeit bei bereits enstandener Eskalation...
 
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Wenn Leib und Leben bedroht sind, ist das auf jeden Fall eine Maßnahme die man ergreifen kann, unter Unständen sogar sollte. Bevor ich irgendwo tot über dem Lattenzaun hänge... :-( Ich glaube, dass Tante Doll da das "worst case"-Szenario anspricht...
 
@WildeSchwester:
Zurückschlagen wäre in der o.g. Situation sicherlich nicht der richtige Weg gewesen - ich glaube auch nicht das TanteDoll dies gemeint hat...
Aber hast du schonmal akutpsychiatrisch gearbeitet? Da gibt es durchaus Situation in denen du dich körperlich zur Wehr setzen musst wenn du keinen größeren persönlichen Schaden davon tragen möchtest...
Aber selbstverständlich muss grundlegend die Gegenwehr im Verhältnis zu dem Angriff stehen!

Lg
 

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