Intensivtagebuch

Bernie68

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14.09.2009
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Langenberg in OWL
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FKP A+I / Praxisanleiter
Akt. Einsatzbereich
OP/Int/Anästhesie/ZSVA
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Leitung
Liebe KollegInnen,

im Rahmen eins Lehrganges im mittleren Management möchte ich ein Referat über das Thema Intensivtagebuch halten.

Hat jemand von Euch Erfahrung mit dem Tagebuch? Würde Es gerne auf unserer Intensivstation einführen.

Liebe Grüße aus OWL
Bernd
 
Hallo Bernie68,

ich habe keinerlei Erfahrungen mit einem Intensivtagebuch. Allerdings weiß ich auch noch nicht mal, wozu es gut sein soll bzw. was darin stehen soll? Könntest du dazu mal etwas aufklärendes sagen? Für Infos wäre ich dankbar, denn alles, an was ich mich aus grauer Vorzeit erinnere, sind die "Nachtwachenbücher". Darin schrieb die Nachtschwester auf, was es nachts besonderes gab, obwohl ja noch eine persönliche Übergabe stattfand.

Meinst du sowas in der Art, fragt sich
Sativa
 
Danke für die Erklärung. Habe noch nie davon gehört, kann es mir aber insbesondere für Angehörige und Patienten, aber auch für die Mitarbeiter als wertvolle Hilfe und Aufarbeitungsmöglichkeit vorstellen. Allerdings ist es schon mit "Schreibaufwand" verbunden, und vom Schreiben haben bei uns viele die Nase voll... Es wird als notwendige Pflicht empfunden und wird auch immer mehr.

Für mich persönlich kann ich mir so ein Tagebuch sehr gut vorstellen, gerade zum nachträglichen verarbeiten und begreifen einer solchen Situation. Habe auch selber Tagebuch geschrieben, während ich zur Geburt meiner Kinder im Krankenhaus lag, auch im Kreißsaal. Das sind sehr wertvolle Erinnerungen für mich.

Sativa
 
Natürlich ist es mit mehr Schreibaufwand verbunden - ABER:

zum einen kann ich Angehörige in die Schreibarbeit einbeziehen, zum anderen ist das ein Aufwand, der sich lohnt, und von dem auch ich etwas habe. Der Aufwand an sich hält sich sehr in Grenzen. Ich brauche für einen einfachen Eintrag vielleicht 3-5 Minuten, wenn es etwas mehr ist, dann brauch ich auch schon mal länger.

Das Feedback von den Patienten ist übrigens sehr positiv (vor allem, man bekommt Feedbacks!).

Liebe Grüsse
Dirk
 
@Dirk: kannst du uns etwas über das Verhältnis Patienten/Krankenschwester in deinem Bereich berichten? Ich finde es immer ein wenig unverfroren, von den eigenen Gegebenheiten auf andere Situationen zu schließen. Und manchmal sind 5 min. beim Patienten mehr wert, als jedes schreiben. Wir schreiben eh schon viel zu viel damit der MDK zufrieden ist. Wenn ich da nur an die diversen geforderten Checklisten in Deutschland denke.

Elisabeth
 
Hallo Elisabeth !

Es ist nicht unverfroren, sondern unerheblich wie das Verhältnis ist, denn das Verhältnis Patient zu Pflegekraft ändert ja an der Zeitangabe 3-5 Minuten nichts.

Und da ja auch nicht für jeden Patient ein Tagebuch geschrieben wird, und auch nicht in jeder Schicht ein Eintrag erfolgt, und auch nicht immer jeden Tag ein Eintrag erfolgt relativiert sich der Zeitaufwand wieder ganz schnell.
 
Hallo,
hier sind ein paar Informationen über das Patiententagebuch.

Das Patiententagebuch ist meist ein einfacher A5-Ordner. In ihm befinden sich schon einige Seiten auf denen Begebenheiten der Station beschrieben sind. Zum Beispiel der Monitor, ein beatmeter Patient ist ebenfalls abgebildet. Jeder Patient, der auf der Station länger als 2 Tage aufgenommen wird, bekommt so ein Tagebuch. Die Pflegekraft, die den Patienten in der Schicht betreut, nimmt einfach ein Blatt Papier und schreibt auf, was am Tag so passiert ist. Dies geschieht aber nicht in einer medizinischen Sprache, sondern in einem direkten Dialog mit dem Patienten. Es gibt da kein festes Schema. Vielleicht schreibt man etwa: Du bist heute viel ruhiger und hast ganz gut geschlafen. Ich habe den Eindruck, das du mich jetzt besser verstehst. Deine Schmerzen scheinen ebenfalls nicht mehr so stark zu sein. Deine Frau war zu Besuch und hat dir die ganze Zeit die Hand gehalten. Du hast immer noch einen Beatmungsschlauch in der Luftröhre, der dir bei der Atmung hilft. Die Sprache soll natürlich wertschätzend sein. Man schreibt nur über das, was man dem Patienten oder den Angehörigen auch sprechen würde (in Deutschland würde man natürlich siezen!).

Wenn Angehörige sich bemüßigt fühlen, können sie ebenfalls gern in das Buch schreiben. Es gibt da keine fest strukturierte Form. Viele Patienten haben nur wenige Erinnerungen an die Zeit auf der Station und bekommen hinterher große Ängste deswegen. Sie sollen mit dem Tagebuch eine Gedächtnisstütze bekommen und ein Andenken an die extremen Situationen.

Der Patient bekommt das Tagebuch mit nach Hause, wenn er möchte. Verstirbt er, können die Angehörigen das Buch mitnehmen. Im Buch sind auch einige Fragebögen enthalten, die der Patient ausfüllen kann und an das Krankenhaus schicken. So wird das Projekt wissenschaftlich begleitet.

Es scheint so zu sein, dass das Patiententagebuch eine positive Auswirkung auf die Patienten hat und posttraumatische Belastungsstörungen vermindern kann. Die Forschungen laufen aber noch weiter, soweit ich weiß. Denn es könnte ja auch sein, dass manche Menschen erst durch das Tagebuch erschreckt werden. Tagebücher können, wie alles, auch Nebenwirkungen haben.

Natürlich braucht man einige Minuten für das Tagebuch. Aber ich denke, diese Minuten sind ganz gut investiert. Im übrigen denke ich nicht, dass die deutsche Krankenschwester zu viel schreibt. Sie schreibt im Vergleich zu anderen Ländern viel zu wenig. Sie macht eher Kreuzchen ganz gleich den vielen erbarmenswerten Analphabeten auf der Welt. Nur wer viel schreibt, wird auch wahrgenommen! Das Tagebuch könnte die Krankenpflege in Deutschland ein kleines Stück weiterbringen, denke ich. Fünf Minuten am Schreibtisch können manchmal mehr wert sein als fünf Minuten am Patienten.
 
Es geht nicht um deine Wahrnehmung, wenn du Leute überzeugen willst, sondern um die Wahrnehmung der Kollegen vor Ort. Ein Problem wird nicht kleiner, wenn man es negiert.

Ich dachte übrigens immer, dass man vor dem Schreiben den Kopf einschalten muss... es sei denn man schreibt ohne drüber nachzudenken einen Standardtext. Noch schneller dürfte es mit den allseits beliebten Checklisten o.ä. Assessments gehen.

Ich weiß, wovon ich da rede. Auch wenn meine Erfahrungen sich nicht auf ein Tagebuch beziehen. Es ist etwas anders, wenn man sein eigenes Konzept lebt. Und es ist etwas anders, wenn man dies in seinem Bereich tut. Spätestens wenn man diesen Bereich verlässt muss man sich mit fremden Gegebenheiten auseinandersetzen. Das nennt man raus aus dem Elfenbeinturm und die Realität erleben.

Elisabeth
 
Hallo Elisabeth!
Ich glaube, an anderer Stelle hab ich das schon einmal erwähnt. Ich finde es sehr traurig, dass Du über eine Sache urteilst (ich meine hier das Tagebuch, nicht das PTSD) die Du nicht kennst. Wenn ich eine Sache partout nicht möchte, kann ich immer Argumente finden, damit ich das bloss nicht tun muss.

Ich persönlich schreibe in Tagebücher, ich nehme mir die Zeit dafür, und es hat mein "Pflegeleben" durchaus bereichert. Ich gebe Dir im übrigen recht, dass man zum schreiben sicherlich sein Hirn benutzen sollte, wie bei allen Pflegetätigkeiten sonst auch. Dies ist meine persönliche Meinung, die man nicht wegdiskutieren muss, und die ich auch nicht diskutieren möchte.

Ich habe auch schon von Kolleginnen und Kollegen aus Deutschland Berichte gehört, die das Tagebuch umsetzen, und zwar mit Erfolg. Es liegt also nicht nur an den Schweizer Verhältnissen, dass es hier funktioniert.

Beste Grüsse
Dirk
 
Tja, da habe ich wohl in ein Wespennest gestochen... Nun gut. Ich habe in meinem Beitrag beschrieben, wie das Patiententagebuch in der Praxis funktioniert. In den skandinavischen Ländern ist es schon seit etwa 20 Jahren etabliert. Die Länder haben Richtlinien entwickelt. Es hat also überhaupt nichts mit dem Elfenbein zu tun. Man muss einfach mal damit anfangen. Und da sind wir bei einem typisch deutschen Problem. Anfangen sollen erstmal die anderen. Wir sind beschäftigt.
 
Anfangen hätten wir sollen vor Jahren- nicht wenn die Zeit manchmal nicht fürs Nötigste reicht.

Deshalb auch an dich die Frage: Patient/Pflegekraft-Verhältnis. Vielleicht magst du ja diese Frage beantworten. Mich interessiert nebenbei noch der sonstige Schreibaufwand. In Deutschland überschlägt man sich ja bekannterweise mit den Papieren.

Warum kann man eigentlich nicht Angehörige dazu anhalten selbständig und kontinuierlich dieses Tagebuch zu führen? Sie sehen die Umgebung mit den Augen des Betroffenen und nicht mit dem medizinischen Blick, den wir nun mal haben. Sie können Reaktionen des Patienten besser bewerten als jeder von uns. Sie kennen ihr Familienmitglied. Sie würden z.B. auch in der Sprache, im Intellekt des Betroffenen schreiben.

Elisabeth
 
Zum Patient / Personalverhältnis:
Es ist vollkommen egal, welche Zahl ich schreibe - es ist, so denke ich, hinlänglich bekannt, dass das Verhältnis deutlich besser ist, wie in Deutschland. Jedoch sagt das bessere Verhältnis ja noch lange nichts über Aufgaben - Verantwortungsbereich bzw. Tätigkeitsintensität aus. Zur Schreibarbeit denke ich, verhält es sich ähnlich - auch wir dokumentieren uns einen Wolf...

Angehörige sind, und das kannst Du meinem ersten Post hier entnehmen, ein unglaublich grosses Potential. Wir erklären das Tagebuch den Angehörigen, und ganz ehrlich glaube ich, dass auch Angehörige vom Schreiben eines Tagebuches profitieren können. Doch brauchen sie oft eine Idee, was man schreiben kann. Auch passieren Dinge, während die Angehörigen nicht da sind (denken wir mal an die Häuser, in denen es starke Restriktionen in der Besuchszeit gibt). Auch gibt es Patienten, die keine oder nur wenige Angehörige haben.

Liebe Grüsse
Dirk
 
Das Patient / Pflegekraft-Verhältnis ist nicht direkt zu vergleichen. Es gibt in Skandinavien mehr Pflegekräfte pro Patient. Die haben aber auch deutlich mehr Aufgaben in Therapie und Organisation. Beispielsweise ist die Kommunikation mit den Angehörigen Schwesternaufgabe. Hier ist deutlich weniger Arzt pro Patient. Man fragt nicht wegen jedem Medikament, man darf durchaus mal selber was anordnen. Das traut man den Pflegekräften zu. Und das trauen sie sich selbst auch zu.

Ich denke mal, der Aufwand, der sich durch ein Patiententagebuch auftürmt, beläuft sich so auf eine Zigarettenlänge.

Aber mal weg von den sinnlosen Zeitdiskussionen. Denn darum geht es (meiner Meinung nach) nur vordergründig. Dahinter steht meiner Meinung nach eher so etwas wie eine erlernte Hilflosigkeit der Pflegekräfte in Deutschland. Alle leiden unter den Arbeitsbedingungen. Gleichzeitig versuchen sie aber, jegliche Veränderungen mit Gewalt zu verhindern. Das kommt mir immer ein bisschen merkwürdig vor. Wo ist das Problem, am Tag eine halbe A5-Seite mit Worten zu füllen?

Die Angehörigen dürfen natürlich auch in das Tagebuch schreiben. Aber, das sollten wir nicht vergessen, sind sie oft genauso von der Situation überfordert und brauchen Hilfe. Sie verstehen oft auch nicht so gut, worum es geht. Wenn es ihnen hilft, sollen sie schreiben. Wenn es sie überfordert, dann eben nicht.
 
Aber mal weg von den sinnlosen Zeitdiskussionen.

Kennt ihr den (inoffiziellen) Aufgabenbereich eurer deutschen Kollegen?

Ihr unterschätzt gewaltig das Gefühl eurer Kollegen. Wer dieses Gefühl negiert, hat schon verloren. Und wer dann nicht den Fehler macht, dieses Gefühl zu hinterfragen stellt die Wahrnehmung der Kollegen in Frage- auch kein schöner Zug.

Um solch eine Idee zu implementieren braucht es andere Wege als: da gibt es Studien und in der Schweiz und in Norwegen funzt das auch.

Holt eure Kollegen da ab, wo sie stehen. Manchmal muss so eine Idee Step by Step eingeführt werden. Der erste Schritt kann da sein, bereits vorhandene Fähigkeiten zu nutzen und ggf. leicht zu modifizieren. Das kostet primär erst mal nicht mehr Zeit. Basale Erfahrung- klitzekleine Brötchen backen, ggf. auch nur das Korn für die Brötchen anbieten.
Auch in der Schweiz und Norwegen entstanden die aktuellen Strukturen nicht in wenigen Monaten.

Elisabeth

PS: Einem Süchtigen sein Suchtmittel um die Ohren zu hauen bringt nix. Viele Raucher nutzen zudem diese Pausen um einen Abstand zu bekommen. Denn dort kann man nicht jederzeit abgerufen werden, wie es z.B. in der Frühstückspause möglich ist, wo man neben der Klingel sitzt.

Als Nichtraucher habe ich mir diese Auszeit auch geholt und kann versichern: das ist eine echte Pause. Mir fehlte nur die nette Kommunikation welche ich aus Raucherpausen kenne.
 
Ich finde die Idee toll. Selbst ein Satz am Tag wuerde ja dem Patienten schon helfen-ausserdem zaehlt der Versuch!

Ausserdem ist positiv denken mehr wert als alles andere!

Viel Glueck mit der tollen Tagebuchidee! Lass dir das von Miesmachern nicht ausreden! :daumen:
 
Ich finde die Idee nicht schlecht. Den Zeitaufwand sehe ich als nicht sonderlich hoch, wenn ich mich auf eine kurze Eintragung reduziere. Ein Tagebuch durch die Angehörigen geführt fände ich fast noch besser, da persönlicher.

Schreibt ihr in die Bücher auch wenn der Patient sehr verwirrt, agitiert und schwer zu führen ist? Wenn ja, wie schreibt ihr das?

Ich nehme mal an, es steht dem Patienten auch frei diese zu lesen. Was passiert mit Büchern die Patienten nicht lesen wollen oder haben wollen?

Sonnigste Grüsse
Narde
 
Die Bücher, die die Patienten nicht haben wollen, werden vernichtet. Man schreibt eigentlich für alle Patienten Tagebuch, die längere Zeit auf der Station verbleiben.
 
Und was ist mit Durchgangssyndrom und ähnlich agitiertem Verhalten?

Delirante Patienten?
 
Alle! Die bleiben ja meist nicht so. Und später, zuhause haben sie oft Probleme mit der Erinnerung. Können sich vieles nicht erklären. Dann nehmen sie das Tagebuch und haben eine Chance, die Lücken zu füllen. Genau für solche Patienten ist das Tagebuch da. Wenn du alles sowieso weißt und genau einordnen kannst, brauchst du kein Tagebuch.

Viele Patienten berichten von merkwürdigen Wahrnehmungen während der Intensivbehandlung. Diese können noch lange Zeit nach dem Aufenthalt Ängste und posttraumatische Belastungen hervorrufen. Da setzt die Wirkung des Tagebuchs ein. Es erklärt die Situation von einer anderen Perspektive aus.