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Taube Ohren auf der Richterbank

Von Gisela Friedrichsen , Kempten
Lebenslang. Das Urteil für den Todespfleger von Sonthofen löste bei den Hinterbliebenen der Opfer Erleichterung aus. Doch es verdeckt die eigentlichen Ursachen einer solchen Tat. Die Zustände an Krankenhäusern lassen immer mehr Schwestern und Pfleger zu Tätern werden.
Kempten - Als es hieß: "Der Angeklagte wird wegen Mordes verurteilt", da atmeten die Hinterbliebenen der Opfer hörbar auf. Das Gericht hatte ihren Wünschen entsprochen. Lebhafte Erleichterung, zufriedene Gesichter. Doch dann wieder bange Blicke: Hoffentlich war es auch bei meinem Großvater oder bei meiner Mutter Mord. Und nicht "nur" Totschlag.
Zwölfmal Mord aus Heimtücke, 15 Mal Totschlag, dazu versuchter Totschlag, Tötung auf Verlangen, gefährliche Körperverletzung und die Feststellung, dass eine besondere Schwere der Schuld vorliege - das Urteil das Landgerichts Kempten, das heute Vormittag der Vorsitzende Richter der 1. Großen Strafkammer, Harry Rechner, gegen den 27 Jahre alten Krankenpfleger Stephan L. verkündete, weicht im Ergebnis von den Strafanträgen der Staatsanwaltschaft (16 Morde, zwölfmal Totschlag) nicht wesentlich ab. Was hingegen die Verteidigung in dem seit Februar währenden Prozess für ihren Mandanten vorgebracht hatte, was Diskussionsstoff hätte sein können, ja sein müssen, blieb unberücksichtigt. Illusionen hatten sich die Verteidiger Jürgen Fischer, Frankfurt am Main, und Oliver Ahegger, Kempten, von Anfang an nicht gemacht. Dass ihre Einwände gegen die Ermittlungen und das Verhalten einiger Kripobeamter, das zumindest Zweifel an der Verwertbarkeit der Geständnisse L.s nahelegte, auf taube Ohren stoßen würde, war schon bald klar.
Doch dass sich das Gericht auch der Auseinandersetzung der Verteidigung mit den rechtsmedizinischen Sachverständigen entziehen würde, dass die Argumente und Beweisanträge der Verteidiger derart ins Leere laufen würden, überraschte denn doch. Nicht einmal der Hinweis zuletzt, dass es sich bei der Abteilung des Krankenhauses Sonthofen, auf der L. beschäftigt war, zwar nicht formal, dennoch aber faktisch zum Teil um eine Intensivstation gehandelt habe, fand bei den Richtern Gehör.
Pfleger fühlen sich allein gelassen
Die Taten L.s, in der Öffentlichkeit gern als "schlimmste Serientötung der Nachkriegszeit" apostrophiert, reihen sich ein in eine ganze Kette ähnlicher Vorfälle an Kliniken in der Vergangenheit; und diese Kette wird mit einer harten Verurteilung nicht zum Reißen gebracht. Immer wieder beunruhigen Tötungen, verübt von Krankenschwestern und Pflegern, die Öffentlichkeit.

Aufsehenerregende Prozesse in Wuppertal und in Bielefeld, in Wien, in den Niederlanden, Norwegen und den Vereinigten Staaten lenkten schon vor Jahren die Aufmerksamkeit auf Entwicklungen in Kliniken und Heimen, an denen überforderte, ausgebrannte oder unzureichend ausgebildete Schwestern und Pfleger scheiterten. Zu Patiententötungen kam und kommt es nicht, weil die Pfleger mordlustige, von niedrigen Beweggründen getriebene Gesellen sind, sondern weil sie sich alleingelassen fühlen, weil sie das Leid der Sterbenden und von Medizintechnik Gequälten als ihr eigenes empfinden, weil sie keinen Weg aus dem als widersprüchlich und sinnlos und kaum erträglich erlebten Alltag finden.
L. war für die Pflege von Intensivpatienten nicht ausgebildet. Als Berufsanfänger - er hatte seinen Dienst am 6. Januar 2003 in Sonthofen begonnen, die erste Tat ereignete sich Anfang März - verfügte er auch nicht über die für derartige Pflege erforderliche Praxiserfahrung. In Sonthofen wurden Intensivpatienten entweder auf der sogenannten Wachstation oder im normalen Klinikbetrieb neben anderen Patienten mit normalem Pflegebedarf versorgt.
"Oberflächliches Mitleid"
Dass die Innere Abteilung des Krankenhauses in Sonthofen nicht dem Standard einer Intensivstation entsprach, überging die Kammer bei ihrem Urteil. Dass es ein Unterschied ist, ob ein ausgebildeter Fachpfleger mit maximal vier Intensivpatienten befasst ist oder ein Berufsanfänger wie L. sich neben einem oder mehreren Intensivpatienten auch noch um weitere 13 bis 14 Normalpatienten zu kümmern hat, war dem Gericht kein Wort wert. Was die Verteidigung über das in derartigen Fällen immer wieder zitierte Motiv des Mitleids, des Mit-Leidens mit den Kranken, der mangelnden Distanz eines noch nicht professionell an Schmerz und Tod gewohnten jungen Pflegers ausgeführt hatte - es blieb ohne Resonanz.
Die Kammer sah allenfalls "oberflächliches, nicht anerkennenswertes Mitleid". L. habe "aus eigener emotionaler Überforderung gehandelt, weil er selbst den Zustand der Patienten nicht ertragen hat". Er habe getötet, selbst wenn ein Patient erst kurz auf Station war. "Wie soll sich da eine Mitliedsbeziehung aufbauen", fragte Richter Rechner. "Er hat nicht abgewartet, wie sich der Zustand entwickelt, sondern entschieden und gehandelt."
L.s subjektiver Eindruck und sein Gefühl seien ausschlaggebend gewesen. Er habe nicht gefragt, ob es eine Patientenverfügung gebe, er habe sich nicht bei den Angehörigen erkundigt, ob der Kranke sterben wolle. "Er hat den Patienten zum Objekt seiner Vorstellungen gemacht." Der psychiatrische Sachverständige Klaus Foerster habe die Bewertung des Gericht unterstützt: L.s eigene "Vorstellungen von lebensunwertem Leben" seien ausschlaggebend für sein Handeln gewesen.
Während die Staatsanwaltschaft der Fiktion "objektiven Mitleids" anhing und Mord und Totschlag nach einer "retrospektiven Prognose" der entgangenen Lebensdauer voneinander unterschied, ging die Kammer so vor: Lag der Patient im Koma oder war er dement - keine Heimtücke, also Totschlag. Konnte der Kranke wenigstens noch mit Blickkontakt signalisieren, dass er mitbekommt, was um ihn herum geschieht: Heimtücke, also Mord. Niedrige Beweggründe fand die Kammer bei L. nicht.
Angehörige erwägen Revision
Sogar der Tod einer Frau, die in Selbstmordabsicht Rattengift eingenommen hatte, sich gegen eine Intensivbehandlung wehrte und sich jeder ärztlichen Hilfe für die Zukunft verweigerte, wurde als Mord bewertet: "Sie hatte sich offensichtlich in ihr Schicksal gefügt", sagte der Vorsitzende. Bei einer anderen schwerstkranken Frau wertete das Gericht ihre Beschwerde über das Essen als "Lebensfreude".
Einigen Hinterbliebenen der getöteten Patienten war das Urteil offenbar noch nicht genug, sie wollen selbst bestimmen, was aus L. wird. Sie glauben ihm Reue und Schuldgefühle nicht. Da nützt es auch nichts, wenn der Vorsitzende aus seinem Abscheu keinen Hehl machte: "Er hätte sich Rat holen können, er tat das bewusst nicht. Er traf seine eigene Entscheidung, zu der er sich berufen fühlte. Er maßte sich eine nicht nachvollziehbare Entscheidungskompetenz an. Das spiegelt seine Überheblichkeit wider."
Damit sprach der Vorsitzende den Hinterbliebenen zwar aus dem Herzen. Doch die Angehörigen von Opfern, bei denen Mord angeklagt war, aber "nur" auf Totschlag erkannt wurde, wollen nun möglicherweise auf eigene Faust Revision einlegen. Es reicht ihnen nicht, dass der Angeklagte auf unabsehbare Zeit hinter Gittern verschwindet und dass er lebenslang nicht mehr als Pfleger wird arbeiten dürfen. Sie fordern eine Verurteilung wegen Mordes, auch wenn die Haft dadurch nicht länger würde.

Quelle:Lebenslang für Todespfleger: Taube Ohren auf der Richterbank - Panorama - SPIEGEL ONLINE - Nachrichten
 
Habe diesen Fall aufmersam verfolgt und bin mir noch nicht ganz schlüssig Wie ich den Ausgang jetzt bewerten soll.
Kenne leider zu wenig die Einzelheiten der einzelnen Fälle doch finde das es schon sehr anmassend ist wenn man als Pfleger bestimmt wer sterben kann/darf/soll und wer nicht. Ich verstehe auf eine bestimmte Art und Weise die Motive des Pflegers.
Kenne selbst genug Fälle bei denen die Krankengeschichte ausweglos ist und nach heutigem medizinischem Stand keine Heilungschance mehr besteht sondern nur noch lebensverlängernd gehandelt wird.
Ich selbst bin auch der Meinung das man die Sterbehilfe einführen sollte aber mit klaren Regelungen und die zu finden ist wahnsinnig schwer.
Dieses Thema wirft wieder große Diskussionen in der Gesellschaft auf.
Ich versteh natürlich auch die hinterbliebenen die einen lieben Menschen verloren haben doch wie gesagt kenne zu wenig die einzelnen Fälle um zu beurteilen.
LG Sassy
 
Das ganze wird jetzt 2 - 3 Tage heftigst in den Medien, von der Politik und am Arbeitsplatz? diskutiert und dann ab in die Versenkung; nächstes Drama bitte.
:daumen: Unsere kaputte Gesellschaft wartet schon darauf :evil: