Wie lerne ich "abschalten"?

Sterntaler

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Heute ist zum ersten Mal seit ich im Altenheim arbeite etwas wirklich schlimmes passiert.
Einer Bewohnerin, die kurze Zeit vorher noch unauffällig war, ist ein Aneurysma (Schreibweise?) im Bauch geplatzt und ich habe sie gefunden- ohnmächtig und überall Erbrochenes, nicht ansprechbar egal was man versucht hat etc.
Ich glaub ich habe alles richtig gemacht, sprich ich wusste, was ich tun musste etc. Aber ich stand hinterher sowas von neben mir und konnte das auch noch nicht ablegen bis jetzt.
Inzwischen weiß ich, dass sie eine OP hatte aber diese gut überstand und außer Lebensgefahr ist.

Aber trotz allem sehe ich dieses Bild ständig vor mir und fange wieder an zu grübeln.

Vielleicht ist das Problem auch, dass ich hinterher gerne darüber geredet hätte, aber alle-sagen wir mal- so überrascht waren, dass ich erstmal danach hibbelig und durcheinander war und mich so komisch angeguckt haben, ich mich deshalb dumm gefühlt hab und nicht mehr zu reden getraut habe. Aber im Altenheim passiert sowas nicht alle Tage und vielleicht findet ihr es auch lächerlich, aber ich muss erstmal lernen mich an sowas zu gewöhnen.

Wie habt ihr gelernt "abzuschalten"? Und wie macht ihr das?
Ich wäre für eure Erfahrungen sehr dankbar!

Liebe Grüße,
Sterntaler
 
hi! :)

Diesmal schreib ich dir was :lol:

Hoffe du denkst jetzt nicht,ich habe zu wenige Ehrfahrungen,aber ich kann dir ja mal erzählen,was ich so bei meinem Pranktikum erlebt habe,und das war schon nicht wenig...

Also am Anfang,bervor ich damit irgndwas zu tun hatte,habe ich immer gedacht:IIIIh ich werde niemals etwas erbrochenes oder so wegmachen usw.

Das erste was ich dann erlebt habe war,das ich etwas auf ne andere station bringen wollte,und eine rote lampe leuhten sah.ich ging in das zimmer und wa sah ich:Eine Frau,die schon ne Halbe stunde lang ihren "stuhlgang" ins bett erledigt hat,weil keine schwester kam.
Naja ich konnte sie ja nicht so liegen lassen oder?Natürlich habe ich das dann saubergemacht und seitdem hatte ich keinen eckel mehr,zumindest nicht vor kot.
Dann habe ich schon einen älteren Hernn erlebt,der erbrach seinen Kaffe durch die Nase.im ersten moment hört sich das lustig an,aber es war schon eckelig.da wusst ich auch ned was ich machen soll.

und einen mann habe ich erlebt,der sozusgen im sterben lag.ich war die einzigste,von der er sich füttern lies und eines tages griff er nach meiner hand und streichelte sie.ich musste mich beherrschen nicht zu heulen.
ich denke sowas geht nicht spurlos an einem vorrüber.aber mir wurde gesagt,ich müsste lernen,nach sowas einfach weiterzumachen,als wäre nix passiert...
 
hab noch was vergessen:weisst du was mir bei sowas hilft??
einfach vorher denken:ich schaffe das,denn es kann IMMER passieren.
 
Hey Chani.

Das mit dem Ekel das macht mir nix- ich hab auch einfach von Anfang an zugepackt und das ist echt kein Problem mehr, aber war es auch nie, sondern eher die Gewöhnung daran. Kommt ja nun jeden Tag vor, dass ich Vorlagen wechsel, Schieber etc.

Nur diese ganze Situation, einfach keine Kleinigkeit, sondern etwas richtig lebensgefährliches. Meine erste Annäherung mit einem Menschen in Lebensgefahr und dem Begreifen vom Ernst der Situation und die Erforderlichkeit von schneller Hilfe. Das ist eine neue Erfahrung für mich- so dringend war es noch nie, Und ich war zum ersten Mal mit der Situation konfrontiert, auf die ich mich -dachte ich!- vorbereitet hatte, aber wohl doch nicht genug: Ich komme in ein Zimmer und ein BW ist in akuter Lebensgefahr.

Danach hab ich fast in jedem Zimmer bei jedem Bewohner erstmal etwas gefährliches hinter jedem noch so kleinen Huster vermutet...

Ich habs noch nicht geschafft durch zu atmen und zu sagen: "So und jetzt gehts weiter."
Ich habs wenigstens hingekriegt, trotz kurzer Überlegung die selbstauferlegte Schuld (weil ich hätte je das und das erkennen müssen und dieses und jenes hätte darauf hinweisen können) nicht anzunehmen und mir zu sagen:"Hättest du was geahnt, hättest du auch gehandelt."

Viele Grüße
 
Ich denke schon das es schwer ist,besonders in der Altenpflege,wo jede sekunde jemand sterben kann.

Aber wenn man spass an einem beruf hat muss man sich immer sagen:ich konnte nix dafür dass er gestorben ist,ich habe alles so gemacht,so gut wie ich es konnte.

und ich denke dass auch jede altenpflegerin so ist.hast du denn mal mit deinen kollegen gesprochen,was die darüber denken?
 
Hi Sterntaler,

ich wünschte ich hätte ein Patentrezept für dich, den ich glaub mal mit diesem Problem schlägt sich fast jeder rum, besonders eben dann wenn einem die Routine fehlt.
Ich stand heute morgen auch vor meinem Patienten und hab festgestellt dass er in der Nacht Blut erbrochen hat, das ganze Bett voll ... kaum noch nen Puls hatte und nur noch ganz flach geatmet hat.
Ich weiss auch nicht mehr wie ich die Stunden danach verbracht habe, hab das alles irgendwie nur noch am Rande mitbekommen.
Der Patient ist auch heute morgen noch verstorben, und ich denk mir auch die ganze Zeit ob ich in den letzten Tagen was übersehen habe .. nicht richtig gearbeitet habe oder was auch immer.
Und die guten Ratschläge der Kollegen helfen nicht wirklich .. " du musst einfach nur abschalten, denk an was schönes" .. ja danke. Wenn ich könnte würds mir besser gehen.
Einige sagen auch man soll mit irgendwem drüber reden .. mit Kollegen wenn man sie "Absicherung" braucht dass man alles richtig gemacht hat .. oder mit Freunden oder Bekannten wenn man sich einfach nur aussprechen will und was anderes hören möchte.
Die nächsten sagen dann, man sollte sich zuhause hinlegen und Musik hören oder ähnliches .. das würd auch beim abschalten helfen..
Eine Kollegin hat erzählt sie ginge immer zum sport bis sie richtig ausgepowert ist .. ich weiss nicht was davon am besten "hilft" ..
Vielleicht kannst du damit irgendwas anfangen, ich hoffs mal ... wenn nicht, dann kommst du hoffentlich anders schnell auf andere Gedanken und findest deine "Routine" wieder.
 
@CHANI
Ich hab schon oben geschrieben:
"Vielleicht ist das Problem auch, dass ich hinterher gerne darüber geredet hätte, aber alle-sagen wir mal- so überrascht waren, dass ich erstmal danach hibbelig und durcheinander war und mich so komisch angeguckt haben, ich mich deshalb dumm gefühlt hab und nicht mehr zu reden getraut habe."



Hallo Severin.

Ich danke dir ganz herzlich für deine Tipps!

Ja da hast du ja heute auch so einen Tag wie ich hinter dir...
Ich hab auch meine Arbeit weitergemacht, aber ich habe auch total neben mir gestanden. Ich hab ständig versucht mich zusammenzureißen und mir immer gesagt:"Sei jetzt professionell, du hast schließlich Verantwortung!" Aber immer wieder sind meine Gedanken abgeschweift- auch jetzt noch zu Hause, wenn ich auf den Fernseher starre.

Auch meine Kollegin war nicht richtig hilfreich- wie gesagt, sie war erstaunt darüber, dass ich von der Rolle war- da fühlt man sich auch nicht mehr ermutigt, über die eben gemachte Erfahrung zu sprechen sondern wie das kleine unerfahrene dumme Mädchen.

Ich hab mit meinem Freund drüber gesprochen und meine Mutter angerufen, aber ich hab immer noch das Gefühl, ich muss irgendwie mit jemandem drüber sprechen.

Wenn ich nicht bei einer Tätigkeit über was anderes nachdenken muss, komme ich immer wieder auf das Erlebte und Gesehene zurück und grübel.

Vielleicht muss ich mir einfach selbst eine Grenze setzen: Ich geh jetzt eine Stunde spazieren und danach komme ich nach Hause- und mich dazu zwingen, an anderes zu denken.

Aber ist es denn richtiger, zu verdrängen oder mir die Zeit zu nehmen, alles zu verarbeiten? Was habe ich davon, wenn mir irgendwann dieses Erlebnis wieder in den Kopf kommt und ich dann wieder von vorne anfange?
Hmmmm... ich dachte, ich wäre drauf vorbereitet, aber ich hätte mir wohl mehr Gedanken machen sollen, dann hätte ich jetzt wenigstens ein System.

Grüße,
Sterntaler
 
Hallo!

Icvh erzähl euch mal von meinem schlimmsten Erlebnis vom letzten Sommer.

Wir hatten eine Pat. auf Station, gerade mal 48 Jahre. Diagnose: Pankreas-CA.
Sie war ewig lange bei uns und dadurch hat sich da schon ne Beziehung aufgebaut. Plötzlich-wenn auch nicht unerwartet- gings ihr von Tag zu Tag schlechter. Ich hatte 12 Tage Dienst am Stück und hab sie dadurch morgens oft gewaschen. An einem Sonntag, meinem letzten Arbeitstag vor der Schulwoche sagte ich ihr, dass ich dann Schule habe.
Sie war sehr traurig und antwortete mir: Warum haben sie ausgerechnet jetzt Schule??? Kommen Sie mich besuchen?
Ich beantwortete diese Frage mit einem JA.
Da ich Montags auf Station war, konnte ich es natürlich nicht lassen zu ihr zu gehen, sie hat sich so gefreut.
Ihre Frage ob ich wieder komme beantwortete ich wieder mit ja.
Was ich dann auch gemacht habe, am Mittwoch. Inzwischen hatte sie den MO-Perfusor auf keine Ahnung mehr was laufen , konnte kaum noch reden und hatte die Augen geschlossen.
Aber wieder kam die Frage ob ich wieder komme. Jedoch antwortete ich nicht mehr mit ja, sondern mit: Ich weiß es nicht.
Freitags dann, war ich wieder kurz auf Station, hatte aber keine Zeit zu ihr zu gehen.
Am Abend trafen wir uns dann um auf ne Veranstaltung aufm Schlossplatz zu gehn, ganz in der Nähe vom KH. Die Stimmung war gut, doch so gegen 23 Uhr wurd mir ganz komisch, ich dachte an diese Pat. und wusste: jetzt ist sie gestorben.
Da ich im PW übernachtete (direkt neben dem KH) hatte ich den Drang auf Station zu gehen, doch ich machte es nicht.
Am nächsten morgen ging ich hoch und sah das leere Bett mit der Air Med Matratze, da war mir alles klar. Im Computer ear ihr Name weg.
Meine Kollegen berichteten mir, dass sie keinen schönen Tod hatte, sie sei erstickt, da die Angehörigen abgelehnt hatten sie weiter abzusaugen.
Mir ging es toatal schlecht, ich machte mir Vorwürfe, dass ich nicht mehr bei ihr war.
Ich hab mit allen möglichen Leuten geredet, sogar mit unsrer Seelsorgerin(die die Pat auch lange kannte) und die auch meine Psychologie Dozentin war, sie gab mir dann den Tip zu ihrer Beerdigung zu gehen um richtig Abschied zu nehmen. Ging aber nicht, da sie in Polen beigesetzt wurde.
Da sagte sie zu mir:" Nimm dir ein paar Blumen, geh an einen schönen Platz und verabschiede dich trotzdem von ihr und immer wenn du an diesen Platz gehst wirst du an sie denken. So hab ichs auch gemacht, und es hat mir geholfen, ich wüsste nicht wie ich ohne freien Kopf für mein Examen hätte lernen sollen.
Kurze Zeit später haben uns die Angehörigen von ihr ein selbst geschriebenes Gedicht, das genau auf sie zugeschnitten war mit einem Bild von ihr mitgebracht, als Dankeschön. Ich habe es mir kopiert, und immer wenn mir danach ist hole ich es raus.

Viele liebe Grüße, Tisi
 
Hallo Tisi.

Danke für deine Geschichte.

Ich denke, ich muss mich erstmal an solche Situationen "gewöhnen", sprich bestimmt war es für mich schlimm, das erste Mal so etwas zu erleben- und im Altenheim sind einem so dolle die Hände gebunden, wir dürfen ja kaum was machen. :roll:

grüße,
Sterntaler
 
Für den Umgang mit dem Tod: Wir haben uns ein Buch eingerichtet auf Station, wo wir Gedanken zu den verstorbenen PatientInnen reinschreiben können.

Wir haben viele Patienten mit Pankreaskopfkarzinom u.ä., die hier immer wieder behandelt werden, wodurch sich eine Beziehung aufbaut. Da kann das ziemlich gut helfen.

Was die im Ursprungsbeitrag geschilderte Situation betrifft: Natürlich gibt es kein Patentrezept. Nur so viel: Verdrängen und insichreinfressen bringts nicht, man muß sich damit auseinandersetzen.
 
"Mein schlimmstes Erlebnis" ist ein Kapitel in unserem Lebensbuch, was sich, glaub ich, nie schließt. Immer wieder erleben wir Situationen, von denen ich dann nachher manchmal denke:"Wie kann ein Mensch das aller ertragen?" Neulich allerdings ist mir eine Sache wiederfahren, da war nicht nur mein Latein am Ende, da konnte ich vor allem nicht fassen und begreifen, noch ahnen, wer da mehr zu (er-)tragen hatte:
Im Nachtdienst um 23.30 Uhr kam eine Ankündigung von der Ambulanz, daß ich eine Aufnahme bekäme. Eine aktive Magenblutung bei Pankreaskopf-Ca. Auf dem Weg nach unten sollte ich gleich beim Labor eine neue Konserve abholen und mitbringen. Der Patient, Klaas, präsentierte sich mir schreiend vor Schmerz, ständig Blut spuckend, grau. Er sah aus, wie bereits tot. Bei ihm Olivier, sein neunjähriger Sohn und Sabine, die Freundin von Klaas. Olivier schrie ebenfalls, weinte laut, weil er nicht fassen konnte, was da mit Papa geschah. Sabine weinte leise und auch sie konnte sich in der Situation nicht finden.
Die Kollegin von der Ambulanz war sichtlich erleichtert, von Klaas und Olivier, aber auch von Sabine befreit zu werden. Die Übergabe gestaltete sich kurz: Durchbruch Pankreaskopf-Ca, schwere gastro-intestinale Blutungen, hier gegeben: bisher 8 Konserven, 6 FFP´s, vier Liter Hemohaes, sehr instabil, furchtbar mit dem Jungen dabei, kann keine weitere Familie erreichen. Der Dok kommt nachher nochmal auf der Abteilung vorbei.
Mit meiner Kollegin und Sabine zog ich das blutverschmierte Laken mit dem Rest von Klaas von der Trage auf das Bett rüber. Klaas verlor auch rektal enorm viel Blut. Olivier war nicht zu beruhigen, schrie wie sein Papa in einem durch. Ich sah das Morfium-Rezept mit maximal 60 mg per 12 Stunden und gab Klaas 10mg i.v.. Er hatte vorher schon 40 mg gehabt und es war noch vor zwölf. Dann habe ich bis zum Morgen weitere 60 mg, dachte ich. Klaas zeigte sich davon wenig beeindruckt und schrie weiter. Die ganze Zeit über dachte ich nur eins: Klaas stirbt mir unter den Händen weg, da kann ich nichts dran ändern. Wie um Himmels Willen krieg ich Olivier hier raus?!!!
Auf dem Zimmer angekommen, mußte ich gleich ein anderes Zimmer suchen, denn Klaas schrie mir die ganze Abteilung wach. Gegenüber den Liften ist ein Untersuchungszimer, da mußten wir dann eben hin. Unser gesamter Weg sah aus wie nach einem Massaker, überall Blutspritzer und dazu das Geschreih von Vater und Sohn. Ich kam mir vor wie im Krieg.
Inzwischen war das Blut eingelaufen und ich bekam von meiner Kollegin die neue Konserve in die Hand gedrückt. Sie versuchte sanft, Olivier mit zu nehmen, doch der schlug und trat um sich, wollte bei Papa bleiben. Sabine saß nur noch in der Ecke und weinte leise vor sich hin.
Zwischen den ganzen Aktionen hindurch hatte sie mir erzählt, was so geschehen war: Klaas war ihr neuer Partner, Olivier sein Sohn. Beide waren jüngst geschieden, verbrachten ihren ersten gemeinsamen Urlaub auf dem Campingplatz am Meer. Plötzlich fühlte Klaas sich schlecht und wollte akut nach Hause, sah nach dem Toilettengang so seltsam grau aus. Auf der Autobahn fuhr Klaas auf einmal rechts ran und erbrach Blut. In Sabine´s Auto! Sie geriet in Panik und rief einen Rettungswagen, der sie alle von dort abholte und zu uns ins Haus brachte. Erst im RTW erzählte Klaas ihr von seiner Krankheit. Neben dem Horror, den sie hier erlebte, brach da heute abend ihre gesamte Gefühlswelt zusammen. Sie konnte das nicht einordnen, konnte aber auch nichts für Olivier bezeichnen, da sie noch überhaupt keine Beziehung zu ihm aufgebaut hatte. Das sollte in diesem Kurzurlaub erst passieren.
Als ich nun den neuen Blutsack anschließen wollte, kontrollierte ich mit Klaas sein Geburtsdatum, seine (Vor-)Namen und seine Blutgruppe. Ich sah, das er nicht mehr viel Zeit haben würde. Also fragte ich, ob er schon Pläne hatte für seinen Tod. Klaas sagte, daß er vor allem keine Schmerzen haben wollte, nicht lange leiden will. Ich sagte ihm, daß die Blutkonserven seinen Zustand nur verlängern, aber sicher nicht mehr verbessern würden. Und das er das Recht hat, die ihm verordnete Transfusionstherapie abzulehnen. Klaas tat, was ich hoffte, das er es tat: Er verweigerte jede weitere Transfusion. Und er verlangte nach Morfium. Er bekam nochmals zehn und nach zwanzig Minuten wieder. Dann erst wurde er zusehends ruhiger. Ich schlug ihm vor, die übrigen vierzig Milligramm in eine Pumpe zu geben und kontinuierlich zu geben. Damit war er einverstanden.
Nun war da immernoch Olivier. Ich sagte ihm, daß sein Papa sterben wird und fragte, ob er das weiß. Olivier wurde plötzlich ganz ruhig. Unglaublich ruhig. Papa hatte ihm gesagt, das er sterben wurde. Und daß sein Junge dann ruhig und stark sein muß. Olivier sagte (unglaublich naiv und doch erwachsen klang das), daß er Angst hatte, da würde irgendwas mit seinem Papa passieren, seine Schmerzen würden nicht aufhören. Darauf war er nicht vorbereitet, das hatte Papa nicht erzählt. Vom Tod aber hatte Papa erzählt. Vom Licht, von Oma, die schon im Himmel auf ihn wartet. Daß Papa ein Engel sein wird, der immer auf ihn aufpaßt. Olivier hatte Frieden mit dieser Situation, wenn sie "nur" den Tod von Papa bedeutete. Wenn er nur nicht mehr so leiden müßte. Das Bluterbrechen hatte ihm Angst gemacht, sagt Olivier. Und das Sabine Papa verlassen würde. Und seine Schmerzen. Der Tod aber gab ihm Ruhe und Frieden. Auf wunderbare Weise hatte Klaas seinen Sohn auf das Schlimmste vorbereitet.
Olivier nahm Papa´s Hand und sagte ihm:"Papa, Du hast gesagt, daß ich stark bin. Sag Oma liebe Grüße, wenn Du sie siehst, ja? Und Gott und Jesus und Frau de Vries [eine verstorbene Nachbarin] und alle die Du siehst, ja?" Ich konnte nicht mehr und ließ meine Tränen laufen. Sabine wurde das hier zuviel und sie ging rauchen. Inzwischen war die Assistenz-Ärztin eingetroffen und hing mir ebenfalls heulend im Arm.
Klaas schlief um vier Uhr einundzwanzig ein. Olivier half mir, seinen Papa zu waschen und freute sich, daß wir ein sauberes Hemd für Papa hatten. "Weil ich doch noch viel zu klein bin und nicht bügeln darf!"
Gegen fünf trafen Klaas´ Eltern mit Olivier´s Mama ein, nahmen Abschied und brachten Sabine zur Autobahn-Raststätte, wo die Polizei ihr Auto geparkt hatte und Olivier mit seiner Mama nach Haus.
Ich brachte Klaas kurz vor Dienstschluß ins Mortuarium und hatte einen Nachtdienst hinter mir, den ich wohl nie vergesse.
An diesem Tag habe ich beschlossen, Patienten und ihre Geschichten nur noch mit zu nehmen "bis zum Kreisel". Ich muß durch einen Kreisverkehr und dort parke ich alle Gedanken um "meine" Patienten, allen Kummer, all ihr Leid und all meinen Frust bis zum nächsten Morgen.
Und Ausnahmen, gaaanz wenige Ausnahmen, dürfen mit bis zur nächsten Brücke. Aber dann ist Ruhe in meinem Kopf. Das Radio geht an und ich fahre nach Hause.
 

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