"Mein schlimmstes Erlebnis" ist ein Kapitel in unserem Lebensbuch, was sich, glaub ich, nie schließt. Immer wieder erleben wir Situationen, von denen ich dann nachher manchmal denke:"Wie kann ein Mensch das aller ertragen?" Neulich allerdings ist mir eine Sache wiederfahren, da war nicht nur mein Latein am Ende, da konnte ich vor allem nicht fassen und begreifen, noch ahnen, wer da mehr zu (er-)tragen hatte:
Im Nachtdienst um 23.30 Uhr kam eine Ankündigung von der Ambulanz, daß ich eine Aufnahme bekäme. Eine aktive Magenblutung bei Pankreaskopf-Ca. Auf dem Weg nach unten sollte ich gleich beim Labor eine neue Konserve abholen und mitbringen. Der Patient, Klaas, präsentierte sich mir schreiend vor Schmerz, ständig Blut spuckend, grau. Er sah aus, wie bereits tot. Bei ihm Olivier, sein neunjähriger Sohn und Sabine, die Freundin von Klaas. Olivier schrie ebenfalls, weinte laut, weil er nicht fassen konnte, was da mit Papa geschah. Sabine weinte leise und auch sie konnte sich in der Situation nicht finden.
Die Kollegin von der Ambulanz war sichtlich erleichtert, von Klaas und Olivier, aber auch von Sabine befreit zu werden. Die Übergabe gestaltete sich kurz: Durchbruch Pankreaskopf-Ca, schwere gastro-intestinale Blutungen, hier gegeben: bisher 8 Konserven, 6 FFP´s, vier Liter Hemohaes, sehr instabil, furchtbar mit dem Jungen dabei, kann keine weitere Familie erreichen. Der Dok kommt nachher nochmal auf der Abteilung vorbei.
Mit meiner Kollegin und Sabine zog ich das blutverschmierte Laken mit dem Rest von Klaas von der Trage auf das Bett rüber. Klaas verlor auch rektal enorm viel Blut. Olivier war nicht zu beruhigen, schrie wie sein Papa in einem durch. Ich sah das Morfium-Rezept mit maximal 60 mg per 12 Stunden und gab Klaas 10mg i.v.. Er hatte vorher schon 40 mg gehabt und es war noch vor zwölf. Dann habe ich bis zum Morgen weitere 60 mg, dachte ich. Klaas zeigte sich davon wenig beeindruckt und schrie weiter. Die ganze Zeit über dachte ich nur eins: Klaas stirbt mir unter den Händen weg, da kann ich nichts dran ändern. Wie um Himmels Willen krieg ich Olivier hier raus?!!!
Auf dem Zimmer angekommen, mußte ich gleich ein anderes Zimmer suchen, denn Klaas schrie mir die ganze Abteilung wach. Gegenüber den Liften ist ein Untersuchungszimer, da mußten wir dann eben hin. Unser gesamter Weg sah aus wie nach einem Massaker, überall Blutspritzer und dazu das Geschreih von Vater und Sohn. Ich kam mir vor wie im Krieg.
Inzwischen war das Blut eingelaufen und ich bekam von meiner Kollegin die neue Konserve in die Hand gedrückt. Sie versuchte sanft, Olivier mit zu nehmen, doch der schlug und trat um sich, wollte bei Papa bleiben. Sabine saß nur noch in der Ecke und weinte leise vor sich hin.
Zwischen den ganzen Aktionen hindurch hatte sie mir erzählt, was so geschehen war: Klaas war ihr neuer Partner, Olivier sein Sohn. Beide waren jüngst geschieden, verbrachten ihren ersten gemeinsamen Urlaub auf dem Campingplatz am Meer. Plötzlich fühlte Klaas sich schlecht und wollte akut nach Hause, sah nach dem Toilettengang so seltsam grau aus. Auf der Autobahn fuhr Klaas auf einmal rechts ran und erbrach Blut. In Sabine´s Auto! Sie geriet in Panik und rief einen Rettungswagen, der sie alle von dort abholte und zu uns ins Haus brachte. Erst im RTW erzählte Klaas ihr von seiner Krankheit. Neben dem Horror, den sie hier erlebte, brach da heute abend ihre gesamte Gefühlswelt zusammen. Sie konnte das nicht einordnen, konnte aber auch nichts für Olivier bezeichnen, da sie noch überhaupt keine Beziehung zu ihm aufgebaut hatte. Das sollte in diesem Kurzurlaub erst passieren.
Als ich nun den neuen Blutsack anschließen wollte, kontrollierte ich mit Klaas sein Geburtsdatum, seine (Vor-)Namen und seine Blutgruppe. Ich sah, das er nicht mehr viel Zeit haben würde. Also fragte ich, ob er schon Pläne hatte für seinen Tod. Klaas sagte, daß er vor allem keine Schmerzen haben wollte, nicht lange leiden will. Ich sagte ihm, daß die Blutkonserven seinen Zustand nur verlängern, aber sicher nicht mehr verbessern würden. Und das er das Recht hat, die ihm verordnete Transfusionstherapie abzulehnen. Klaas tat, was ich hoffte, das er es tat: Er verweigerte jede weitere Transfusion. Und er verlangte nach Morfium. Er bekam nochmals zehn und nach zwanzig Minuten wieder. Dann erst wurde er zusehends ruhiger. Ich schlug ihm vor, die übrigen vierzig Milligramm in eine Pumpe zu geben und kontinuierlich zu geben. Damit war er einverstanden.
Nun war da immernoch Olivier. Ich sagte ihm, daß sein Papa sterben wird und fragte, ob er das weiß. Olivier wurde plötzlich ganz ruhig. Unglaublich ruhig. Papa hatte ihm gesagt, das er sterben wurde. Und daß sein Junge dann ruhig und stark sein muß. Olivier sagte (unglaublich naiv und doch erwachsen klang das), daß er Angst hatte, da würde irgendwas mit seinem Papa passieren, seine Schmerzen würden nicht aufhören. Darauf war er nicht vorbereitet, das hatte Papa nicht erzählt. Vom Tod aber hatte Papa erzählt. Vom Licht, von Oma, die schon im Himmel auf ihn wartet. Daß Papa ein Engel sein wird, der immer auf ihn aufpaßt. Olivier hatte Frieden mit dieser Situation, wenn sie "nur" den Tod von Papa bedeutete. Wenn er nur nicht mehr so leiden müßte. Das Bluterbrechen hatte ihm Angst gemacht, sagt Olivier. Und das Sabine Papa verlassen würde. Und seine Schmerzen. Der Tod aber gab ihm Ruhe und Frieden. Auf wunderbare Weise hatte Klaas seinen Sohn auf das Schlimmste vorbereitet.
Olivier nahm Papa´s Hand und sagte ihm:"Papa, Du hast gesagt, daß ich stark bin. Sag Oma liebe Grüße, wenn Du sie siehst, ja? Und Gott und Jesus und Frau de Vries [eine verstorbene Nachbarin] und alle die Du siehst, ja?" Ich konnte nicht mehr und ließ meine Tränen laufen. Sabine wurde das hier zuviel und sie ging rauchen. Inzwischen war die Assistenz-Ärztin eingetroffen und hing mir ebenfalls heulend im Arm.
Klaas schlief um vier Uhr einundzwanzig ein. Olivier half mir, seinen Papa zu waschen und freute sich, daß wir ein sauberes Hemd für Papa hatten. "Weil ich doch noch viel zu klein bin und nicht bügeln darf!"
Gegen fünf trafen Klaas´ Eltern mit Olivier´s Mama ein, nahmen Abschied und brachten Sabine zur Autobahn-Raststätte, wo die Polizei ihr Auto geparkt hatte und Olivier mit seiner Mama nach Haus.
Ich brachte Klaas kurz vor Dienstschluß ins Mortuarium und hatte einen Nachtdienst hinter mir, den ich wohl nie vergesse.
An diesem Tag habe ich beschlossen, Patienten und ihre Geschichten nur noch mit zu nehmen "bis zum Kreisel". Ich muß durch einen Kreisverkehr und dort parke ich alle Gedanken um "meine" Patienten, allen Kummer, all ihr Leid und all meinen Frust bis zum nächsten Morgen.
Und Ausnahmen, gaaanz wenige Ausnahmen, dürfen mit bis zur nächsten Brücke. Aber dann ist Ruhe in meinem Kopf. Das Radio geht an und ich fahre nach Hause.