Liebe Brady,
vielen Dank für dein Interesse. Hier also das, was ich mir überlegt und mit Hilfe meiner KollegInnen schon umgesetzt habe ( wir sind noch nicht am Ende der Umsetzung angelangt).
Ausgangspunkt ist, wie gesagt, die Überlegung, dass die Theorie von Needham/Abderhalben ( N/A) für viele Stationen nicht taugt. Die Kritikpunkte habe ich im ersten Postiing genannt.
Die Frage war also, wie ich das Paradigma " Ich muss die Pflege so organisieren, dass die N/A-Theorie erfüllt wird" anpasse bzw. verändere, dass sie den Vorgaben der Stationsalltags-Realität entspricht.
Das geht mit dieser Theorie nicht. Ich habe den umgekehrten Weg gewählt: "Wie passe ich die Realität einer Theorie an?".
Die Realität auf "meinen" Stationen ist: wenig Personal, viele Patienten, hohe Fallraten, kurze Verweildauern, Änderungen des Dienstplans durch Erkrankungen von MitarbeiterInnen. TeilzeitmitarbeiterInnen.
Ergo: ich muss die Ressourcen bündeln und konzentriert einsetzen.
So habe ich die Patienten in 3 Gruppen eingeteilt:
Kategorie 1 ( K1 ): Intensivpatienten
Kategorie 2 ( K2 ): Regelpatienten
Kategorie 3 ( K3 ): Rehabilitative Patienten
orientiert an den PsychPV-Kategorien.
Ein K1-Patient braucht mehr Ansprache als ein K3-Patient. Wir haben festgelegt, dass ein K1 1 mal pro Schicht, ein K2 1 mal in den Tagschichten, ein K3 1 mal pro Woche einen Kontakt haben muss.
Zunächst war Vorgabe, dass es ein Gespräch sein sollte, mit strukturiertem Bogen in einem geeignetem Setting, sprich Raum. Das lässt sich ob der Architektur und der schnelllebigen Arbeit nicht umsetzen. Deshalb der Begriff des "Kontaktes". Der kann auch auf dem Flur, beim Kochen oder beim Bettenmachen stattfinden.
Aber, und das ist mir wichtig, der Kontakt muss einen Bezug haben und das ist die Pflegeplanung. Sie ist zentraler Bestandteil dieser Bezugspflege. Der Kontakt ( bei einem depressiven Patienten kann das ja durchaus auch das konstruktive Schweigen ( im Extremfall) sein) muss sich immer auf die Pflegeplanung beziehen.
Ich nenne meine Theorie die "Dynamische Bezugspflege" im Gegensatz zur statischen BP. Sie muss sich den Gegebenheiten der Station ( wie oben beschrieben) anpassen. Sie ist flexibel. Was heißt das?
Einmal am Tag, morgens bei uns, wird festgelegt, welcher Patient in welche Kategorie eingeordnet wird. Die Frühschicht entscheidet also, welche Personalressourcen am Tag zur Verfügung stehen um welche Aufgaben der dynamischen BP abzudecken. Sie kann also entscheiden, wieviele K1 sie wirklich "erledigen" kann. Sie entscheidet, wieviele K2 sie "erledigen" kann und welche Patienten in der Spätschicht kontaktiert werden müssen.
Dies alles in Abhängigkeit zur Personalsituation, Krankheitsausfälle, Patientenbeanspruchung. Das bedeutet, das eventuell Patienten, die gestern noch K1 waren, heute aufgrund anderer Bedingungen K2 werden.
(In diesem Zusammenhang vielleicht ganz interessant, dass die Therapeuten kritisch angemerkt haben, dass dadurch ja die Qualität sinken würde. Auf meine Entgegnung, dass sie doch nichts anderes machen würden in Krankheits- oder Urlaubszeiten, nämlich zu entscheiden, welcher Patient dringend, welcher weniger dringend ist, konnten sie nichts mehr antworten...).
Hinter meiner völlig unwissenschaftlicher Theorie steckt die deutsche Semantik, die N/A nicht abbilden. Bezug und Beziehung sind einfach etwas anderes. Die N/A-Theorie bezieht sich auf Beziehung und ist deshalb, wie ich meine, falsch definiert (mit Verlaub). "Meine" Theorie basiert auf dem Bezug. Es wird ein Bezug zum Patienten hergestellt und der Patient kann einen Bezug zur Pflegekraft herstellen. Und dies können tatsächlich eben verschiedene Personen sein, die sich aber immer auf die Pflegeplanung beziehen. Und die gilt unabhängig von der Pflegekraft.
Mit der Dynamischen BP ist es möglich, Krankheitsausfälle, Häufung von intensiven Patienten und TeilzeitmitarbeiterInnen zu organiseren, ohne dass das Gefühl aufkomt, der wirklich wahren und richtigen N/A-BP nicht zu entsprechen oder ständig Vertretungssituationen zu regeln.
Und die Rückmeldungen der KollegInnen sind durchweg positiv. Sie habe nicht mehr das Gefühl, ständig zu "versagen", weil sie die Ansprüche nicht abdecken können. Sie sind zufriedener und deshalb auch engagierter geworden. Sie konstatieren, dass ihre Situation auf Station plötzlich einbindbar ist in etwas, was neben N/A Qualität bedeutet.
Soweit meine Erfahrungen. Natürlich betone ich gerne, dass wir uns erst am Anfang befinden. Einiges läuft schon völlig routiniert, anderes muss noch erarbeitet werden ( zB die weiteren Inhalte und Zuständigkeiten der tagbezogenen BP). Die Diskussionen auf Station haben mir gezeigt, dass es gar nicht so einfach ist, die Theorie von N/A aus den Köpfen rauszukriegen, trotz der Frustration, die deswegen entsteht, aber wenn das erst mal überwunden ist, bringt die Arbeit in der Dynamischen BP viel mehr Spaß, weil die Ergebnisse in die wirklichen Verhältnisse der Station eingebunden sind. 30-% - wie 100%-Mitarbeiter finden sich wieder.
So weit, so kurz... zu "meiner" Dynamischen Bezugspflege. Ich habe jetzt wenig über den organisatorischen Teil geschrieben oder wie ich vorgegangen bin bei der Einführung ( aber es ist ja auch so ziemlich lang...). Wen das interessiert, der soll sich bitte melden.
Ich würde mich über Rückmeldungen sehr freuen, wie ihr darüber denkt. Einiges habe ich ja nur angerissen, und verlangt vielleicht noch nach etwas mehr Ausführlichkeit. Vielleicht habt ihr ja ähnliche Erfahrungen oder ähnliche Projekte. Wäre spannend.
Insofern liebe Grüße
Jorge